Lindauer Zeitung

Reise durch eines der ältesten Häuser Lindaus

Wie die Martin-Thomann-Stiftung das geistige Erbe des Lindauer Ehrenbürge­rs sichert

- Von Susi Donner

- Ein Gefühl der Ehrfurcht beschleich­t den Besucher des Hauses in der Vorderen Metzgergas­se mit der Hausnummer 12. Das spätmittel­alterliche Bürgerhaus wurde im Jahr 1340 erbaut und war von 1829 bis 1959 eine Bäckerei, die von der Familie Thomann geführt wurde. Wer mag hier schon alles ein und aus gegangen sein, in beinahe achthunder­t Jahren?

Es ist das Haus, in dem Martin Thomann 1915 das Licht der Welt erblickte. Bäckermeis­ter, Malerpoet, Stadtführe­r, Ehrenbürge­r und mit Leib und Seele Lindauer. Hier arbeitete er, und hier wuchsen seine drei Kinder auf. Ingeborg Krüger, eines dieser Kinder, möchte das denkmalges­chützte Gebäude erhalten und pflegen, und vor allem das Andenken an ihren Vater, seinen künstleris­chen Nachlass und sein Wirken in Lindau bewahren. Sie sieht dies als unausgespr­ochenen Auftrag an, den zu erfüllen ihr bedeutsame­r Lebensinha­lt geworden ist. Und für den sie 2012 die Martin-Thomann-Stiftung ins Leben gerufen hat. „Mein Vater hat es nie gesagt, aber ich weiß, dass es ihn freuen würde“, sagt sie.

Gemeinsam mit den Stiftungsr­äten Eugen Baumann und Karl-Heinz Brombeis, der zudem das Patenkind von Martin Thomann ist, führt sie durch das Haus, in dem die Zeit stillzuste­hen scheint. Sie wollen es so herrichten, dass sie hier zu besonderen Anlässen interessie­rte Besucher empfangen können, erzählen sie. Dafür gibt es noch viel zu tun: Sichten, digital und analog sichern, aufräumen und dabei in Erinnerung­en schwelgen. Die Räume wirken, als wären sie eben noch bewohnt gewesen.

Die Möbel stammen aus dem frühen 20. Jahrhunder­t – oder sind noch älter. Alles ist gepflegt, sauber, gut gelüftet und voll von vielfältig­em Leben, das hier, in den uralten Mauern, stattgefun­den hat. Wenn sie auch eng, verwinkelt und vollgestel­lt sind, so haben die Zimmer einen ganz eigenen Charme. Im Erdgeschos­s, in dem bis vor 62 Jahren die Bäckerei war, ist ein Laden vermietet, ebenso die Wohnung im ersten Stock, in deren heutigem Wohnzimmer Martin Thomann geboren wurde. Mit dem Mietzins pflegt die Stiftung das MartinThom­ann-Haus. Die Wohnung im zweiten Stock, in der sich auch das Atelier befindet, hat Martin Thomann bewohnt, bis er 2002 für seine letzten fünf Lebensjahr­e ins Hospital auf der Insel gezogen ist.

Im Atelier steht ein kleiner Holztisch, eng ans Fenster geschoben. Ein Wachstuch ist darauf festgeklem­mt, Becher mit Bleistifte­n, Farben, Pinseln stehen bereit, als wäre der Künstler nur kurz aufgestand­en, um etwas zu holen. Stattdesse­n setzt sich Ingeborg Krüger nieder, auf den Holzstuhl ihres Vaters. „Hier hat er jeden Tag gemalt“, sagt sie versonnen. Bilder gibt es von einem, der beinahe täglich ein Bild fertig gemalt hat, zuhauf. Rund 2000 Exponate vermuten die Stiftungsr­äte. Sie hängen an allen Wänden der Zimmer. Schränke und Regale voller weiterer Bilder, Manuskript­en und Aufzeichnu­ngen verwahren das Lebenswerk des unermüdlic­hen Künstlers.

Im Flur steht die alte Bäckereika­sse – ein prächtiges Museumsstü­ck als Erinnerung an die lange Bäckertrad­ition der Familie Thomann. Ingeborg Krüger weiß noch genau, wie sie bedient wurde. „Meine Familie war in fünf Generation­en Bäcker und vorher in fünf Generation­en Metzger. Ein richtiges Handwerker­geschlecht“, erzählt sie. „Mein Vater musste Bäcker werden. So war die Tradition damals. Der älteste Sohn übernahm das Handwerk der Familie. Mein Vater wurde praktisch als Bäcker geboren.“Sein eigener Berufswuns­ch wäre Lehrer oder Künstler gewesen.

Martin Thomann habe sein ganzes Leben in Lindau verbracht – mit Ausnahme der Kriegsjahr­e. 1947 kam er zurück und übernahm traditions­gemäß die Bäckerei seines Vaters. Als 1959 seine Frau jung starb, gab

Ingeborg Krüger

Martin Thomann die Bäckerei auf, um sich um seine drei Kinder zu kümmern. Daneben ließ er sich als Fachlehrer für die Berufsschu­le ausbilden und gab angehenden Bäckern und Konditoren Unterricht. Wenn er Zeit hatte, widmete er sich seinen Lieblingst­hemen, der Malerei und dem Schreiben.

Martin Thomann habe nie ein Auto besessen. Er schwang sich mit Block und Stift aufs Fahrrad und malte die spannendst­en Ansichten seiner Stadt. „Aber er hat keine Kunstausbi­ldung gemacht. Mein Vater war Autodidakt“, verrät die 77jährige Tochter. 1947 wurde Martin Thomann zudem der erste Stadtführe­r in Lindau – für ganze 40 Jahre. Seine Stadtführu­ngen hat er dokumentie­rt, weswegen es auch hier einen beträchtli­chen Nachlass an Aufzeichnu­ngen gibt. Aufzeichnu­ngen, die, ebenso wie die vielen Bilder des Künstlers, das mittelalte­rliche Haus mit Gerätschaf­ten der Bäckerei, Rezeptbüch­ern und allem, was sonst darin zu finden ist, erhalten bleiben sollen. „Mein Vater war ein sehr geselliger, humorvolle­r und hilfsberei­ter Mensch. Er hat ein überaus bescheiden­es Leben gelebt. Er war der, der immer alles weggeben konnte

Karl-Heinz Brombeis

Wer die Martin-Thomann-Stiftung in ihrer Arbeit unterstütz­en möchte, kann dies beispielsw­eise tun, indem er Band eins und/oder zwei des Büchleins „Lindau – eine Stadt verändert ihr Gesicht“erwirbt. Teil eins hat Martin Thomann 1987 zusammen mit Werner Dobras, zu jener Zeit Stadtarchi­var und Kreisheima­tpfleger, erstellt, nach einer Idee des ehemaligen Landrats Klaus Henninger, um Bilder verlorener Gebäude, die einmal der Stadtbild mitgeprägt haben, wieder ins Gedächtnis zu rufen. Eine Fortsetzun­g sollte folgen. Martin Thomann hat es selbst nicht mehr geschafft, aber die Martin-Thomann-Stiftung hat vor zwei Jahren nun den zweiten Teil veröffentl­icht. Auch hier zeigen Bilder von Martin Thomann, was zu den baulichen Wurzeln Lindaus gehört, denn eine seiner wichtigste­n Absichten sei es gewesen, und sagte, das brauche ich nicht. Ich will nur malen“, sagt Ingeborg Krüger. Doch „weggeben“sei nun etwas, das sie gar nicht möchte. Sie will den Bestand und somit das Lebenswerk ihres Vaters, von dem sie sagt „er war ein Bewahrer“auch nach ihrem eigenen Leben sichern und denkmalger­echt erhalten. Weil sie selbst keine Kinder habe, sei die Stiftung dafür ihre eingebaute Versicheru­ng.

Karl-Heinz Brombeis, der erzählt, dass „Onkel Martin“ihn selbst zum Malen und Zeichnen gebracht habe, erklärt, dass Martin Thomann vor allem deswegen Ehrenbürge­r der Stadt Lindau wurde, weil er seine innige Verbundenh­eit zu seiner Heimatstad­t in vielfältig­er Art gelebt habe. „Wie viele Vereine haben ihn um ein Gedicht für einen Jubilar gebeten? Wie viele Texte für das Kinderfest hat er verfasst? Wie vielen Bürgern hat der Landrat zu großen Jubiläen einen ‚Martin Thomann‘ vermacht?“, fragt Brombeis. Es sei immer Thomanns Wunsch gewesen, etwas beizutrage­n, ohne Honorar dafür zu nehmen. „Ich kenne viele, die stolz sind, ein Bild von Onkel Martin zu besitzen. Natürlich war er kein Picasso, aber seine Werke muss man aus seine Heimat in Bildern für die Nachkommen aufzubewah­ren. Neue Fotos und ausführlic­he Bildbeschr­eibungen werfen zudem einen Blick auf die heutigen Perspektiv­en. Der Leser erfährt in 32 vorher-nachher-Ansichten viel Wissenswer­tes über die Lindauer Stadt und ihre Baugeschic­hte. Als Hommage an Martin Thomann als Stadtführe­r sei der Aufbau des Buches gedacht. Die Orte sind so in Reihenfolg­e gebracht, dass man sie mit Hilfe zweier im Buch enthaltene­r Karten ablaufen kann, beinahe so, als wäre man mit Martin Thomann bei einer seiner legendären Stadtführu­ngen unterwegs. Die Bücher sind im Herzsprung Verlag erschienen und in allen Lindauer Buchhandlu­ngen sowie unter anderem bei der Firma Kaspar, im TollHaus, bei TerraCotta, Ludwig Lipp und Farben Kaiser erhältlich. (sd) der lokalen Perspektiv­e schätzen und würdigen.“

Ein Museum könne das MartinThom­ann-Haus nicht werden. Aber eine Idee sei, ein Angebot im Rahmen einer Stadtführu­ng zu machen oder es Schulklass­en zu zeigen. Denn es ist Teil des gut und ursprüngli­ch erhaltenen Ensembles in der Vorderen Metzgergas­se Nummer Zwei bis 16, das ab etwa 1320 entstanden ist. Eugen Baumann, früherer Stadtplane­r von Lindau und ehemaliger Kreisheima­tpfleger, kennt sich aus. Das Besondere am Martin-Thomann- Haus sei natürlich sein Alter, das im unverbaute­n Dachstuhl durch Dendrochro­nologie (Holzalters­bestimmung) recht präzise ermittelt werden konnte: Das spätmittel­alterliche Bürgerhaus wurde 1340 errichtet und gehört zu den ältesten Häusern auf der Insel. Dazu komme seine über die Jahrhunder­te erhaltene Grundrisss­truktur, die als markantes Merkmal einen gebäudehoh­en Innenhof mit Lichtschac­ht besitzt, um den herum die Zimmer in den Stockwerke­n kreisförmi­g angelegt sind. „Gerade in einer Bäckerei wäre diese Bauweise brandschut­ztechnisch heute nicht mehr möglich“, erklärt Baumann. „Brennen darf es da nicht. Der Innenhof würde wirken wie ein gut ziehender Kamin.“

Als das Martin-Thomann-Haus erbaut wurde, war Lindau gerade Freistadt geworden und nur dem Kaiser und dem König untertan. Die Insel sei Dank ihrer Lage als wichtige Reiseroute über den See für Waren aller Art der ideale Standort gewesen, Geld zu verdienen. Lindau war nach Überlingen und Konstanz die reichste Stadt am Bodensee. Weil es nur wenige Stadtbränd­e gegeben habe (außer am Marktplatz) und auch keine Zerstörung in den Kriegen, ist Lindau eine typische spätmittel­alterliche Stadt. Einen Teil ihrer Geschichte hat Martin Thomann sein halbes Leben lang in Aquarellen, Zeichnunge­n, einigen Ölbildern, in Gedichten und Prosa dokumentie­rt – und damit eine zeitlose Erinnerung erschaffen.

Wer sich für Bilder von Martin Thomann interessie­rt oder aus anderen Gründen Kontakt aufnehmen will, kann sich schriftlic­h bei der Martin-Thomann-Stiftung melden, Vordere Metzgergas­se 12, 88131 Lindau. Stiftungsv­orsitzende sind Ingeborg Krüger und Karin Reisert, Stiftungsr­äte sind Uta Weik-Hamann, Eugen Baumann und Karl-Heinz Brombeis.

 ?? FOTOS: SUSI DONNER ?? Stiftungsr­at Eugen Baumann vor einem der vollgepack­ten Schränke mit Bildern, Büchern und Manuskript­en, die es zu sichten und sortieren gilt (Bild oben links). Die Zimmer sehen aus, als wären sie noch bewohnt. Stiftungsr­at Karl-Heinz Brombeis (Bild rechts unten) zeigt die Wandstrukt­ur und Dämmmateri­alen, die bei Renovierun­gsarbeiten zum Vorschein kamen. Das Bild unten links zeigt die Familie Thomann.
FOTOS: SUSI DONNER Stiftungsr­at Eugen Baumann vor einem der vollgepack­ten Schränke mit Bildern, Büchern und Manuskript­en, die es zu sichten und sortieren gilt (Bild oben links). Die Zimmer sehen aus, als wären sie noch bewohnt. Stiftungsr­at Karl-Heinz Brombeis (Bild rechts unten) zeigt die Wandstrukt­ur und Dämmmateri­alen, die bei Renovierun­gsarbeiten zum Vorschein kamen. Das Bild unten links zeigt die Familie Thomann.
 ?? ?? Ingeborg Krüger, 77-jährige Tochter des Malerpoete­n Martin Thomann, am Arbeitstis­ch ihres Vaters.
Ingeborg Krüger, 77-jährige Tochter des Malerpoete­n Martin Thomann, am Arbeitstis­ch ihres Vaters.
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