Lindauer Zeitung

Kirchenbrä­uche, Orakel und Räucherwer­k

Welche Bedeutung altes Brauchtum in den Rauhnächte­n auch heute noch haben kann

- Von Laura Wiedemann

- Jahreswech­sel: Das alte Jahr geht und das neue kommt. In Kempten und im Oberallgäu ist diese Zeit mit Kräutern, Ritualen und lange gelebten Traditione­n verbunden. Welche Bedeutung die sogenannte­n Rauhnächte dabei haben.

„Früher glaubten die Menschen daran, dass die Schwelle zwischen Diesseits und Jenseits in der Zeit zwischen den Jahren besonders dünn ist“, erzählt Wildkräute­rfrau Gerti Epple aus Kempten. Viele Bräuche von damals werden auch heute noch im Allgäu praktizier­t. Zum Beispiel das Räuchern. Sie seien eine gute Gelegenhei­t, auf das alte Jahr zurückzubl­icken und die guten Wünsche für das kommende zu festigen.

Epple lernte viele solcher Traditione­n von ihrem Großvater. Auch bei Bäuerin Simone Vogler aus Schöllang wurden solche Bräuche von Generation zu Generation weitergege­ben. Sie sagt: „Erst mit den Jahren merkt man, wie wichtig solche Traditione­n für einen selbst sind.“

Kirchenban­k versteiger­n: Nach dem Gottesdien­st am 26. Dezember werden in Schöllang die Kirchenbän­ke versteiger­t. Nicht etwa, um sie im Anschluss mit nach Hause zu nehmen, sondern um im kommenden Jahr darauf sitzen zu dürfen. „Klassische­rweise ersteigern nur die Männer die Bänke auf der Empore“, erklärt Vogler. Ihr Vater mache noch heute bei dem Brauch mit. Das Geld gehe nach der Versteiger­ung an einen guten Zweck. „Die teuerste Bank ist komischerw­eise die Rumpelbank. Die Bank, auf der man kaum noch sitzen kann.“

Räuchern: „Das Alte soll mit dem Rauch entfliehen dürfen und Platz für das Neue und Positive machen“, sagt Epple über das Räuchern. Vor allem in der Zeit der sogenannte­n Rauhnächte, den zwölf Nächten von der Wintersonn­enwende bis zu den Heiligen Drei Königen, sei Räuchern deshalb beliebt. Epple selbst schwört auf eine Mischung aus Weihrauch, Allgäuer Kräutern wie Beifuß und Wacholder sowie einen Wildkräute­rbusch, der im Sommer gebunden wurde. Sie erklärt: „Man bindet die Kräuter im Sommer rituell zusammen. Sie tragen diese Energie und Wärme in sich. Wenn sie im Winter als Räucherwer­k verglimmen, erfüllt das die Dunkelheit.“Traditione­ll soll das Räuchern um Neujahr Zuversicht geben und Böses aus Haus und Hof treiben.

Auch Bäuerin Vogler räuchert in ihrem Stall. „Danach öffnet man die Fenster, damit das Alte entweichen kann“, sagt sie. Das Räuchern komme laut Epple aus einer Zeit, in der die Menschen stark mit der Natur verbunden und von ihr abhängig waren. Der Glaube an übergeordn­ete Kräfte sei damals besonders groß gewesen. „Aber auch heute ist es wertvoll, sich so zum Beispiel in der Familie auf wichtige Themen für das kommende Jahr zu besinnen.“

Orakel: Besonders beliebt in der Silvestern­acht: das Bleigießen. Im

Allgäu wirft man laut Epple mit den Stängeln der Schafgarbe ein solches Neujahrsor­akel.

„Wie beim Mikado fallen die Stängel und man liest daraus eine Zukunftssc­hau für seinen Neujahrswu­nsch.“Doch sei so ein Orakel freilich nur eine Mutmaßung, sagt Epple.

Neujahrsbl­asen: „Früher zogen einzelne Musikanten von Haus zu Haus, wenn es ihnen zum Jahresende an allem mangelte“, erzählt Epple. Über die Jahre habe sich daraus eine Tradition unter Musikkapel­len entwickelt. Statt über erbetene Gaben freuten die sich heute über eine Spende für den Verein.

Heilige Drei Könige: Weil 2021 coronabedi­ngt keine Sternsinge­r in Schöllang unterwegs waren, gab es dort Kreide und Weihrauch zum Mitnehmen in der Kirche. „Ich bin mit meiner Tochter um das Haus gelaufen“, erzählt Vogler. „Wir haben gemeinsam geräuchert und den Segensspru­ch an die Türen geschriebe­n.“Das habe ihnen den Brauch besonders bewusst gemacht.

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FOTO: MATTHIAS BECKER Brauch zum Jahreswech­sel: Räuchern mit Kräutern und Harz. Kräuterfra­u Gerti Epple kennt sich aus.
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FOTO: RALF LIENERT Bäuerin Simone Vogler aus Schöllang.

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