„Es scheint, dass ich ein erzkonservativer Bock bin“
Christian Streich ist seit zehn Jahren Trainer des SC Freiburg – Er wird auch für seine klare Meinung gefeiert
(dpa) - Als Christian Streich Profi-Trainer beim SC Freiburg wurde, spielten der 1. FC Kaiserslautern, der 1. FC Nürnberg und Hannover 96 noch in der FußballBundesliga. Am 29. Dezember 2011 übernahm der langjährige Jugendcoach bei den Breisgauern den Chefposten und wurde Nachfolger von Marcus Sorg. Seit zehn Jahren ist Streich nun im Amt – es ist ein außergewöhnliches Jubiläum im schnelllebigen Fußballgeschäft. Im Interview der Deutschen Presse-Agentur spricht der 56-Jährige über seine Verantwortung, den Fußball als „Spiegel der Gesellschaft“und seinen Wunsch nach einer langen Reise in die Ferne.
Herr Streich, seit zehn Jahren sind Sie Cheftrainer beim SC Freiburg – im Fußball eine Ewigkeit. Erfüllt Sie das mit Stolz?
Das Wort Stolz mag ich nicht so gerne. Ich empfinde eher Freude und Verwunderung, dass es so lange einigermaßen geklappt hat.
Inwiefern Verwunderung?
Weil ich nicht in solchen Dimensionen gedacht habe. Normal schauen wir im Fußball von Woche zu Woche oder von Saison zu Saison. Und eine Woche kann ja schon mal sehr anstrengend sein – wie die vor dem Spiel in Mönchengladbach (nach drei Niederlagen in Serie, Anm. d. Red.). Wenn ich jetzt darüber nachdenke, dass mein Sohn mich quasi nur in dieser Funktion kennt und mittlerweile auch nicht mehr so klein ist, wird mir schon bewusst, was für eine lange Zeit zehn Jahre eigentlich sind.
Wie wohl fühlen Sie sich in diesem schnelllebigen Geschäft?
Ich freue mich sehr darüber, dass ich so eine Mannschaft trainieren darf und uns so viele Menschen beim Fußballspielen zuschauen. Das ist schon etwas Außergewöhnliches. Der Fußball hat keine geringe Bedeutung. Man kann immer über ihn reden, er wird von vielen Menschen gemocht. Von daher bin ich in einem Bereich tätig, der grundsätzlich schon mal positiv belegt ist. Ich darf dabei sein, mein bescheidenes Wissen einbringen und mit jungen Leuten arbeiten. Das ist äußerst privilegiert. Es gibt Auswüchse, die halten sich aber im Rahmen.
Was wären für Sie denn Anzeichen dafür, dass es genug ist?
Wenn ich glaube, nicht mehr gut genug zu sein. Ich habe eine Verantwortung gegenüber dem Verein. Hier arbeiten ein paar Hundert Leute und Zehntausende Leute mögen ihn.
Es gab 2015 auch schon den Fall, dass der SC abgestiegen ist und trotzdem mit Ihnen weitermachen wollte – und Sie haben ihn dann auch nicht hängen lassen.
Das ist genau die Vertrauensebene, die ich meine. Wenn etwas schiefgehen würde, der Verein aber sagt, ich sei der Richtige und ich hätte die Energie – dann machen wir weiter. Ich möchte in aller Bescheidenheit sagen, dass wir in den zehn Jahren genau einmal abgestiegen sind. Andere große Vereine sind öfter abgestiegen oder länger in der zweiten Liga geblieben. Als wir abgestiegen sind, wurde ich von vielen Journalisten gefragt, ob ich weitermache. Normal wird da gefragt, ob man glaubt, dass man bleiben darf. Das zeigt, wie die Vereinsführung nach außen kommuniziert hat. Da war für mich klar, dass ich weitermache.
Noch viel länger als Ihr erster Tag als Cheftrainer liegt Ihr erster Tag überhaupt beim SC zurück. Welche Erinnerungen haben Sie daran? Vom ersten Tag als Spieler und dem als Jugendtrainer weiß ich nichts mehr. Was ich aber noch weiß, ist: Als die Freiburger Fußballschule 2001 eröffnet wurde, bin ich morgens um 9.00 Uhr ins Möslestadion gekommen und habe mich gefragt, was ich hier jetzt mache. Als wir angefangen haben, die Spiele unserer A-Jugend zu filmen, meinte Kurt Niedermayer von den Bayern, das könne ja nicht wahr sein. Das war damals völlig unüblich. Ich habe den Achim Stocker (damaliger SC-Präsident, d. Red.) gefragt, ob wir eine Kamera haben können. Wozu, fragte er mich. Ich solle die Buben nicht überfordern.
Sie waren jahrelang Trainer der U19. Sicher ein interessanter Bereich, dieser Übergang von den Junioren zu den Erwachsenen.
Total spannend. Eine U15, U16 oder U17 ist schwierig, die Jungs sind in der Pubertät. Ich habe in der Fußballschule viele Hundert Spieler erlebt. Manche sind Bundesliga-Profis geworden, andere Viertliga-Kicker oder Hoteldirektor in Abu Dhabi oder sonst was.
Fast genauso lange wie Sie nun schon Cheftrainer in Freiburg sind, ist der FC Bayern ununterbrochen deutscher Meister. Haben Sie eine Idee, wie es an der Ligaspitze wieder spannender werden könnte? Nein. Denn ich möchte nicht, dass irgendwelche Leute kommen, sich Vereine kaufen, sich Spielwiesen machen und Hunderte Millionen Euro reinbuttern. Die Bayern sind gut, und wir anderen müssten besser sein. Wenn die Bayern keine entscheidenden Fehler machen und weiter Spieler mit der Mentalität eines Thomas Müller,
Joshua Kimmich oder Leon Goretzka holen, bleibt es schwierig für die anderen.
Wie sehen Sie die kommende Fußball-WM in Katar?
Ich hoffe, dass über manche Dinge nicht hinweggesehen werden kann, wenn sie im Fokus stehen. Jemanden vollständig auszugrenzen, ist meistens nicht gut für die Menschen, die dort leben und arbeiten. Weil sie dann noch mehr Repressalien und Machtmissbrauch ausgeliefert sind. Daher habe ich die Hoffnung, dass sich Dinge verbessern, dadurch dass sie im Mittelpunkt der Welt stehen.
Wie sehen Sie die derzeitige Rolle des Fußballs in der Gesellschaft – und wird er ihr gerecht?
Der Fußball ist ein Spiegel der Gesellschaft. Clubs sind auch Unternehmen, und es hängen wahnsinnig viele Jobs am Fußball. Der Fußball ist aber nicht besser als eine Gesellschaft, er ist ein Teil von ihr. Deswegen wäre es illusorisch zu glauben, dass er irgendeine reinigende Wirkung auf sie hätte. Fußball gehört in Deutschland seit 1954 so dazu wie Kaffeetrinken oder Zähneputzen. Er ist eine tägliche Sache. Und er ist ein großes Spiel. Das größte Spiel der Welt.
Bedauern Sie es, dass der Fußball andere Sportarten hierzulande so an den Rand drängt?
Ja, das bedauere ich. Ich bin mit Eishockey groß geworden. Wenn da früher mittags ein WM-Halbfinale im Fernsehen kam, sind bei uns vor dem Elternhaus an der B 3 deutlich weniger Autos gefahren. Handball schaue ich auch mal ganz gerne.
Die Bundesliga pausiert, Sie können ein bisschen abschalten. Welche Themen werden bei Streichs beim Abendessen so besprochen? Corona. Wer hat sich in der Schule angesteckt? Welche Familien brechen gerade auseinander? Dinge, die in anderen Häusern auch besprochen werden.
Welches sind die Orte, an denen Sie im Alltag und im Urlaub gut abschalten können? Sind Sie auch mal ein All-inclusive-Typ?
Ich bin total gerne in den Bergen oder am Meer, und das ist mir dann genug all-inclusive. Ich kann nicht die ganze Zeit nur irgendwo herumliegen. Ich fahre gerne Fahrrad und gehe gerne laufen und gerne an Orte, an denen ich noch nie war. Und vor allem alles in Abstimmung mit den Menschen, die mitgehen. Dass jeder was davon hat.
Was möchten Sie unbedingt noch sehen oder erleben?
Hunderte Sachen, von denen die meisten aber nicht zu verwirklichen sind. Ich würde am liebsten ein halbes Jahr durch Indien laufen. Da gibt es alles. Ich war schon mal drei Wochen dort, aber das war viel zu kurz. Du brauchst ja erst mal Zeit, diesen Kulturwechsel zu verkraften. Nach Norwegen würde ich auch gerne mal.
Könnten Sie sich auch vorstellen, einmal auszuwandern?
Könnte ich schon, aber eher in der Fantasie. Ich bin jetzt 56 Jahre alt und habe mich wohnungsmäßig maximal 200 Kilometer von meinem Heimatdorf entfernt. Es scheint, dass ich ein erzkonservativer Bock bin, der von der Welt spricht und immer am gleichen Ort bleibt.
Welche Menschen haben Sie in Ihrer Familie besonders geprägt? Viele Leute. Meine Oma, die zwei Weltkriege erlebt und trotzdem ihren Optimismus behalten hat. Mein Onkel, der seit seinem fünften Lebensjahr eine geistige Behinderung hatte. Es ist sehr prägend, mit so einem Menschen zusammenzuleben. Meine Mutter, mein Vater. Ich kann mit einem Menschen durch kurzen Blickkontakt sofort zusammenkommen. Das hilft mir – auch in meinem Beruf.
Sie sind ein Trainer mit sehr klarer Meinung zu vielen Themen. Könnten Sie sich auch mal einen Wechsel in die Politik vorstellen?
Nein. Es wäre mir zu anstrengend, jeden Abend zu irgendeiner Veranstaltung zu gehen, Tausende von Fragen zu beantworten und immer in der Kritik zu stehen. Als richtig guter Politiker brauchst du ein unheimlich dickes Fell, eine sehr positive Weltsicht, eine Stoik, trotzdem Emotionalität und einen unendlich langen Atem. Es ist einer der schwierigsten Berufe, die es gibt. Um ein guter demokratischer Politiker zu sein, musst du ein ganz besonderer Mensch sein.