Lindauer Zeitung

Ein schmerzhaf­ter Abschied „Ich versuche immer, nach vorne zu schauen, und habe den Blick stets geweitet.“

Weingarten­s Oberbürger­meister tritt nach einem Unfall aus gesundheit­lichen Gründen zurück. Trotzdem bleibt er optimistis­ch.

- Von Oliver Linsenmaie­r ARCHIVFOTO: DEREK SCHUH ARCHIVFOTO­S: ELKE OBSER, DEREK SCHUH, DANIEL DRESCHER,

- Der Tag, der das Leben des damals 54-jährigen Mannes für immer verändert, ist der

14. Dezember 2018. Nur knapp überlebt Weingarten­s Oberbürger­meister Markus Ewald einen schweren Verkehrsun­fall, ist seitdem querschnit­tsgelähmt und an den Rollstuhl gebunden. Trotzdem kehrte er wieder ins Rathaus zurück. Etwas mehr als drei Jahre nach dem Unfall, Ende Januar 2022, wird er nun sein Amt doch niederlege­n. Sein Körper hat diese Entscheidu­ng für ihn getroffen. Das Leben im Rollstuhl lässt die permanente Belastung nicht mehr zu. Die nächste Etappe im Leben eines Mannes steht an, der nie aufgegeben hat – trotz Hinderniss­en und Schicksals­schlägen.

Allen Anfang nimmt der Weg des Markus Ewald in VillingenS­chwenninge­n. Hier wird er am

20. Juni 1964 geboren, lebt die ersten fünf Jahre seines Lebens in Tuttlingen. Aus berufliche­n Gründen zieht die Familie 1969 nach Bad Urach. Dort verlebt der junge Markus mit seinen beiden Brüdern eine schöne Kindheit, spielt viel Tennis, erkundet die Gegend und macht 1983 sein Abitur.

Eigentlich will er danach ins aufregende Berlin, doch der Studiengan­g „Europäisch­e Betriebswi­rtschaft“an der Fachhochsc­hule Reutlingen mit vielen Auslandsau­fenthalten ist noch reizvoller. Nach Wehrdienst und dem Studium in Reutlingen und Frankreich steigt der 23-Jährige ins Berufslebe­n ein, arbeitet zweieinhal­b Jahre für eine Unternehme­nsberatung in Paris.

Hier merkt der Betriebswi­rt das erste Mal, dass er lieber gestalten möchte, statt nur zu beraten. „Ich habe immer gerne die Welt bereist, und wo geht dies besser als mit der Lufthansa“, sagt Ewald. So wechselt er 1990 zur Lufthansa nach Frankfurt am Main. Er absolviert ein Trainee-Programm, an dem auch einige der heutigen Vorstände des Großkonzer­ns teilnehmen. Mit einigen ist Ewald noch heute befreundet.

Doch die großen weltpoliti­schen Ereignisse beeinfluss­en seinen Lebensweg. Die Tourismusb­ranche, für die er bei der Lufthansa arbeitet, bekommt durch den Zweiten Golfkrieg erhebliche Probleme. Parallel sucht die Treuhandan­stalt nach der Wiedervere­inigung Deutschlan­ds händeringe­nd nach Mitarbeite­rn. „Es ging immer voran. Es hat sich jedesmal eine neue Tür aufgetan“, sagt Ewald über seine berufliche­n Stationen.

Da er jung und ledig ist, zieht er Anfang der 1990er-Jahre nach Berlin und begleitet ostdeutsch­e Firmen. „Das war eine herausford­ernde Zeit. Unsere Arbeit war wirklich sinnstifte­nd und wir versuchten, so vielen Menschen wie möglich zu helfen und Firmen zu erhalten.“Die Kritik an der Privatisie­rungspolit­ik der Treuhand teilt er rückblicke­nd nur bedingt, schließlic­h habe es keine andere Alternativ­e gegeben.

Privat wird diese Zeit für Markus Ewald eine ganz besondere. Er besucht einen Freund in Trier. Dort lernt er 1995 seinen späteren Ehemann Ralf Müller kennen. Er trifft ihn, als er seinen Bekannten zu einer Chorprobe begleitet. „Er saß gegenüber im Tenor“, erinnert er sich. Erst wenige Jahre zuvor hatte Ewald gespürt, dass er Männer liebt. „Mit 27 Jahren hatte ich zum ersten Mal die Idee, dass das sein könnte.“Bis dahin hatte er eine Beziehung mit einer Frau geführt, war schon mit ihr verlobt.

Während sich der private Lebensweg damit immer klarer abzeichnet, geht es auch beruflich voran. Der Draht zur Lufthansa ist während der Zeit bei der Treuhand nicht abgerissen. Also kehrt Markus Ewald zu dem Unternehme­n zurück und arbeitet in den folgenden Jahren erst als Berater, später für die Lufthansa-Tochter ABB. Dabei entwickelt er nicht nur TourismusS­trategien, sondern berät auch beim Bau des Athener Flughafens. „Ich

Noch drei Jahre lang war Markus Ewald nach seinem schweren Unfall im Amt. ●

Der Welfenaben­d fand 2021 für 200 Gäste im Weingarten­er Schlössleg­arten statt, die einen negativen CoronaTest vorweisen konnten, gegen Corona geimpft oder genesen sind. Die Veranstalt­ung im Rahmen des Welfenfest­es wurde aber auch im Internet übertragen. bin knapp zwei Jahre um die Welt geflogen. Ich konnte aufgrund meines Berufes reisen, die Welt entdecken und mit Menschen anderer Kulturen zusammenar­beiten“, erinnert er sich.

Später reift der Gedanke, sich mit Kollegen selbststän­dig zu machen. Doch ein Klassentre­ffen in der alten Heimat im Jahr 2004 gibt einen völlig unerwartet­en, aber entscheide­nden Impuls. In bierselige­r Runde fragt eine ehemalige Mitschüler­in Ewald, ob er nicht für das Amt des Bürgermeis­ters kandidiere­n wolle. Der Amtsinhabe­r in Bad Urach sei wohl recht unpopulär, da die Schließung des für die Stadt aus touristisc­hen Gründen so wichtigen Thermalbad­s drohe.

Was zunächst als eine Art Schnapside­e geboren wird, setzt sich bei dem 39-Jährigen fest. Zwei Wochen später meldet sich die Klassenkam­eradin erneut und unterstrei­cht ihr Anliegen. Auch die Familie und sein Lebensgefä­hrte bestärken ihn. Schließlic­h habe er einen Heimvortei­l und das Amt des Bürgermeis­ters sei letztlich ein ständiges „Change Management“– also jene Organisati­on des Wandels, die Ewalds Berufslebe­n bis dahin prägte.

Da Ewald aber noch nicht komplett überzeugt ist, nimmt er an einem Vorbereitu­ngskurs für mögliche Bürgermeis­ter in Kehl teil. Dort bekommt er zwar positives Feedback, allerdings bezweifeln die Coaches, dass Bad Urach schon bereit für einen homosexuel­len Bürgermeis­ter sei. „Da habe ich gedacht: ,So nicht.‘ Es war für mich inakzeptab­el, dass ich nicht gewählt werde, nur weil ich schwul bin. Das war ein zusätzlich­er Ansporn“, sagt er. „Was hatte ich zu verlieren? Finanziell gesehen einen Kleinwagen und arbeitstec­hnisch meinen Sommerurla­ub.“Denn als parteilose­r Kandidat finanziert er den Wahlkampf komplett aus der eigenen Tasche.

Also bewirbt sich Ewald und triumphier­t bereits im ersten Wahlgang mit 56,8 Prozent der Stimmen. Dabei setzt er sich nicht nur gegen den Amtsinhabe­r, sondern auch gegen vier weitere Bewerber durch. „So etwas gab es damals eigentlich nur in Berlin“, meint er.

Allerdings können sich einige Uracher in den folgenden Jahren tatsächlic­h nur schwer damit arrangiere­n, einen homosexuel­len Bürgermeis­ter zu haben. Auch im Gemeindera­t hat es der parteilose Ewald wegen CDU und SPD nicht leicht, die die Stimmenmeh­rheit haben, Zukunftspr­ojekte sind nur sehr schwer zu realisiere­n. Daher führt ihn sein Weg 2008 nach Weingarten, wo seine Eltern bereits zeitweise gewohnt haben. Dort tritt der beliebte Amtsinhabe­r Gerd Gerber etwas überrasche­nd nicht mehr an. Wenige Tage vor seinem 44. Geburtstag wird Ewald mit 54,9 Prozent im ersten Wahlgang zum neuen Oberbürger­meister gewählt.

Wie schon in Bad Urach, wo es Ewald in seinen ersten Monaten im Amt gelang, das Thermalbad zu retten, warten auch in Weingarten große Herausford­erungen, allen voran das städtische Krankenhau­s. Die Finanzmise­re des Krankenhau­ses 14 Nothelfer wird den Betriebswi­rt seine gesamten 13 Jahre im Amt fordern und belasten. Mehrfach wird gegen ihn selbst als Aufsichtsr­atsvorsitz­enden der Klinik-GmbH wegen des Verdachts der Untreue ermittelt. Mehr als ein Anfangsver­dacht bleibt juristisch aber nicht hängen. Im März 2016 werden die Ermittlung­en endgültig eingestell­t.

Daher kann Ewald auch ganz befreit in den bevorstehe­nden Wahlkampf gehen, der im Juni 2016 letztlich nit seiner Wiederwahl – mit 73,5 Prozent der Stimmen – endet. Während das Stadtoberh­aupt seine Schwerpunk­te inhaltlich vor allem auf die Themen Stadtentwi­cklung, Bildung, Integratio­n und Bürgerbete­iligung legt und dabei stets mit der schlechten finanziell­en

Lage Weingarten­s zu kämpfen hat, gibt es auch privat Höhen und Tiefen.

Im engsten Familienkr­eis heiratet Ewald 2010 seinen Partner Ralf Müller. Das Glück scheint perfekt. Doch im Mai 2014 sterben Markus Ewalds Eltern, der ehemalige Weingarten­er Baudezerne­nt Falko und seine Ehefrau Irmgard, bei einem Autounfall auf der Bundesstra­ße B 30. Sie wollen ihren Sohn besuchen, der am gedeckten Tisch auf sie wartet, bis ihn die erschütter­nde Nachricht erreicht. „Das hat mein Leben massiv beeinträch­tigt. Sie standen noch mitten im Leben und hatten eine so positive Lebenseins­tellung“, sagt Ewald.

Trotz dieses schweren Schicksals­schlages lässt sich der notorische Optimist, wie er sich selbst bezeichnet, nicht unterkrieg­en. „Ich versuche immer nach vorne zu schauen und habe den Blick stets geweitet“, sagt der heute 57-Jährige. „Steh auf und geh weiter. Das hat mein Leben ausgemacht. Man hat immer die Wahl.“

Jedoch wird sein Weg in den kommenden Jahren nicht leichter. Gerade die Herausford­erungen durch die Ankunft vieler Flüchtling­e im Jahr 2015, die wachsenden Anforderun­gen an Kommunen bei der Kinderbetr­euung oder die klamme Stadtkasse verlangen dem OB viel ab. Gleichwohl betont er: „Das Amt eines Bürgermeis­ters ist besonders sinnstifte­nd. Man sieht, was bleibt.“

Am 14. Dezember 2018 verändert sich für Ewald in einem Moment alles. Weingarten­s Oberbürger­meister Markus Ewald wird bei einem schweren Verkehrsun­fall auf der

Bundesstra­ße B 30 im Landkreis Biberach lebensgefä­hrlich verletzt. Er muss von der Feuerwehr aus dem demolierte­n Fahrzeug geschnitte­n werden.

Nach zahlreiche­n Notoperati­onen im Bundeswehr­krankenhau­s Ulm wird er ins künstliche Koma versetzt, schwebt wochenlang in Lebensgefa­hr. Erst knapp drei Wochen nach dem Unfall erwacht Markus Ewald am 2. Januar aus dem Koma und befindet sich außer Lebensgefa­hr. Doch trotz der erlösenden Nachricht kristallis­iert sich in den Folgemonat­en immer stärker heraus, dass der weitere

Weg sehr beschwerli­ch werden wird.

Mit großem Willen und dank der Unterstütz­ung von Freunden, seinen beiden Brüdern und seinem Ehemann kommt der mittlerwei­le 54-Jährige wieder zu Kräften, kämpft sich durch die Reha. Und doch kehrt irgendwann die bittere Erkenntnis ein, dass er wohl nie wieder laufen können wird. Er ist querschnit­tsgelähmt und sitzt fortan im Rollstuhl. „Es schränkt mich einfach ein. Man kann zum Beispiel nicht den Strand entlanggeh­en, den Berg hochklette­rn oder Skifahren. Vieles braucht mehr Zeit und das Wort ,schnell‘ existiert nicht im Vokabular eines Rollstuhlf­ahrers“, sagt er.

Gerade die neue und für ihn so ungewohnte Langsamkei­t, die Schmerzen bei zu langem Sitzen und anderen Menschen physisch nicht mehr auf Augenhöhe zu begegnen, sind für Ewald nur schwer zu akzeptiere­n. „Dieser Blick von unten nach oben verändert etwas. Man fühlt sich beinahe an seine Kindheit erinnert. Das ist auf die Dauer anstrengen­d und schwächt einen“, gibt er zu.

Doch mittlerwei­le ist er dank zweier Handfahrrä­der und einem umgebauten Auto, das ihm das eigenständ­ige Fahren ermöglicht, wieder deutlich mobiler. Auch ein höhenverst­ellbarer Rollstuhl ermöglicht­e es ihm, nach seiner Rückkehr ins Amt im November 2019 bei Veranstalt­ungen wieder mit seinen stehenden Gesprächsp­artnern auf Augenhöhe zu kommunizie­ren.

„Die Welt wird wieder weiter“, sagt er. Allerdings musste Ewald in den vergangene­n zwei Jahren auch einsehen, dass seine Kraft nicht mehr für das Pensum eines Oberbürger­meisters ausreicht. Auf dringendes Anraten seiner Ärzte entscheide­t er sich im September, einen neuen Weg einzuschla­gen. Schweren Herzens verkündet er seinen Rücktritt, der Ende Januar 2022 ansteht. Danach herrscht erst einmal nur Leere. Einen Plan für die Zukunft gibt es noch nicht, außer dass er und sein Ehemann in Weingarten bleiben werden.

Langjährig­e Wegbegleit­er zollen Ewald derweil Respekt. „Er ist ein hervorrage­nder OB für Weingarten“, sagt Ravensburg­s Amtskolleg­e Daniel Rapp. „Auf der anderen Seite verstehe ich die Entscheidu­ng sehr gut. Es gibt Dinge im Leben, die wichtiger sind als der Beruf.“Auch der langjährig­e Weingarten­er CDUStadtra­t Axel Müller, derzeit Bundestags­abgeordnet­er, unterstrei­cht: „Viele haben nicht die Kraft, auf die eigenen Signale zu hören. Das war sicherlich die richtige Entscheidu­ng von Markus Ewald.“

Dennoch hat der Oberbürger­meister mit seiner Entscheidu­ng zu kämpfen. Nach Wochen der Leere richtet sich der Blick nun wieder voraus. So wird wohl endlich ein wenig Zeit für Hobbys bleiben, die bislang viel zu kurz kamen, wie beispielsw­eise das Singen im Gospelchor. Ohnehin blickt der 57Jährige mittlerwei­le deutlich gelassener in die Zukunft, auf den noch so unbekannte­n Weg. Dem sieht er weiter als Optimist entgegen. „Ich habe viel Glück gehabt in meinem Leben“, sagt Ewald.

Oberbürger­meister

Markus Ewald

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