Venedig, wie es niemand kennt
In „Moleküle der Erinnerung“blickt Andrea Segre auf die unwirkliche Ruhe seiner Heimatstadt in den ersten Wochen der Pandemie
Zu den vielen Bildern, die die Pandemie bislang erzeugt hat, gehören neben Leid, Trauer und Wut auch solche von großer Leere und Ruhe. Im Frühjahr 2020 gingen Aufnahmen von menschenleeren Plätzen, Straßen, Stränden, Touristenattraktionen um die Welt. Darunter fand sich auch ein Ort, der von Besuchermassen ansonsten fast ganzjährig geradezu erdrückt wird: Venedig.
Dort hielt sich der italienische Filmemacher Andrea Segre von Februar bis April 2020 auf, um an gleich mehreren Theater- und Filmprojekten zu arbeiten, die sich mit zwei Wunden der Stadt auseinandersetzen: dem Hochwasser und dem Tourismus. Als sich die von ihm zunächst nur beiläufig beachtete Pandemie immer mehr ausweitete und er schließlich in der Stadt festsaß, filmte Segre einfach weiter und fing dadurch etliche einmalige Aufnahmen ein.
Die Bilder bleiben allerdings nicht die einzigen ungewöhnlichen Perspektiven auf Venedig, auch in seinem Dokumentarfilm nähert sich Segre der Stadt auf ungewöhnliche Weise. Denn der Römer ist dort aufgewachsen, wie auch sein verstorbener Vater Ulderico. Mit der Heimkehr begibt sich der Filmemacher nun nicht nur auf die Suche nach dem Ort seiner Herkunft, sondern auch nach dem Vater, der ihm offenbar viel bedeutet hat, aber doch fremdgeblieben war. Dieser war ein schweigsamer Mann, zumindest wenn es darum ging, mit dem Sohn Gefühle und Gedanken zu teilen.
Ulderico Segre war Chemiker, der sich mit der Molekularbewegung befasste. Diese gibt dem Film seinen
Namen, stellt aber auch die Verbindung zum Virus her, das sich während der Dreharbeiten ausgebreitet hat. Vielleicht, sinniert der Sohn, hat der Vater zu Molekülen geforscht, um die Unvermeidbarkeit zu verstehen, die Regeln des Schicksals.
So versucht der Sohn nun, aus einer Vielzahl von kleinen Teilchen ein Bild seiner Herkunft zu schaffen: Interviews, Briefe und vor allem alte Super-8-Aufnahmen. Denn die hatten Ulderico und dessen Bruder Giuliano während ihrer Jugend im Venedig der 1960er-Jahre gedreht und darin die Stadt, aber auch ihr Familienleben festgehalten. Der Film spiegelt auch den Prozess seiner Entstehung wider, sowie den Prozess, den der Filmemacher während der drei Monate durchlief. Zu Beginn stehen noch etwas konventionellere Gespräche mit alteingesessenen Bewohnern der Stadt wie einem lebensweisen Fischer im Mittelpunkt.
Dann rückt die Pandemie mit ihren Auswirkungen immer mehr in den Vordergrund und Segre wird in der Ruhe des Lockdowns zusehends auf sich zurückgeworfen. Nun beginnt er, sich mit dem Vater auseinanderzusetzen, liest dessen bevorzugten Autor Albert Camus und findet in einer Schublade den letzten Brief, den er Ulderico geschrieben hat – und der unbeantwortet blieb. In diesem sinniert er über die Telefonate, bei denen beide das Gefühl hatten, für die wirklich wichtigen Gespräche müsse man sich einmal persönlich zusammensetzen. Und wenn man sich dann tatsächlich traf, war immer einer gerade zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, als dass es zu dem erhofften Austausch kommen sollte.
Begleitet werden diese Gedanken von der äußerst atmosphärischen Musik von Teho Teardo. Doch neben den teils traumhaft anmutenden alten Schwarz-Weiß-Aufnahmen und den Reflexionen des Filmemachers spielt auch der konkrete Alltag in der Stadt eine Rolle. Ein junges Paar erzählt und zeigt in Bildern, wie seine Wohnung vom Hochwasser getroffen wurde. Wegziehen würde es trotzdem auf keinen Fall. Und Elena Almansi steht für die Zerrissenheit der Bewohner Venedigs in ihrem Verhältnis zum Tourismus: Einerseits sorgen die Massen dafür, dass sich die junge Frau das Leben in der Stadt kaum noch leisten kann. Andererseits lebt auch sie vom Tourismus: Sie ist campionessa, eine Voga-Meisterin, beherrscht also die spezielle venezianische Art des Ruderns und bringt diese Besuchern bei, bei Bedarf auch auf Englisch.
Mit dem Filmemacher und einer Freundin rudert Elena nun durch die leeren Kanäle, staunt über die fehlenden Wellen und fährt in das völlig verlassene Fährterminal ein, ansonsten ein Ort großer Betriebsamkeit und der Gegenstand zahlreicher Kontroversen. Vor 25 Jahren, erzählt sie, seien hier vor allem noch Fährverbindungen nach Griechenland ein- und ausgelaufen, vom modernen Kreuzfahrtwesen habe man noch gar keine Vorstellung gehabt.
Offen war zum Zeitpunkt des Filmens, ob die Pandemie nur eine kurze Verschnaufpause bietet oder doch ein neues Zeitalter einleitet. Einige haben sich darauf schon eingestellt, wie Almansi und ihre Freundin amüsiert feststellen: „Der Bangladeschi, der hier sonst Rosen verkauft, hat jetzt Masken im Angebot.“
Moleküle der Erinnerung. Regie: Andrea Segre. Mit Elena Almansi, Maurizio Calligaro, Gigi Divari. Italien 2020. 68 Minuten.