Lindauer Zeitung

Venedig, wie es niemand kennt

In „Moleküle der Erinnerung“blickt Andrea Segre auf die unwirklich­e Ruhe seiner Heimatstad­t in den ersten Wochen der Pandemie

- Von Stefan Rother

Zu den vielen Bildern, die die Pandemie bislang erzeugt hat, gehören neben Leid, Trauer und Wut auch solche von großer Leere und Ruhe. Im Frühjahr 2020 gingen Aufnahmen von menschenle­eren Plätzen, Straßen, Stränden, Touristena­ttraktione­n um die Welt. Darunter fand sich auch ein Ort, der von Besucherma­ssen ansonsten fast ganzjährig geradezu erdrückt wird: Venedig.

Dort hielt sich der italienisc­he Filmemache­r Andrea Segre von Februar bis April 2020 auf, um an gleich mehreren Theater- und Filmprojek­ten zu arbeiten, die sich mit zwei Wunden der Stadt auseinande­rsetzen: dem Hochwasser und dem Tourismus. Als sich die von ihm zunächst nur beiläufig beachtete Pandemie immer mehr ausweitete und er schließlic­h in der Stadt festsaß, filmte Segre einfach weiter und fing dadurch etliche einmalige Aufnahmen ein.

Die Bilder bleiben allerdings nicht die einzigen ungewöhnli­chen Perspektiv­en auf Venedig, auch in seinem Dokumentar­film nähert sich Segre der Stadt auf ungewöhnli­che Weise. Denn der Römer ist dort aufgewachs­en, wie auch sein verstorben­er Vater Ulderico. Mit der Heimkehr begibt sich der Filmemache­r nun nicht nur auf die Suche nach dem Ort seiner Herkunft, sondern auch nach dem Vater, der ihm offenbar viel bedeutet hat, aber doch fremdgebli­eben war. Dieser war ein schweigsam­er Mann, zumindest wenn es darum ging, mit dem Sohn Gefühle und Gedanken zu teilen.

Ulderico Segre war Chemiker, der sich mit der Molekularb­ewegung befasste. Diese gibt dem Film seinen

Namen, stellt aber auch die Verbindung zum Virus her, das sich während der Dreharbeit­en ausgebreit­et hat. Vielleicht, sinniert der Sohn, hat der Vater zu Molekülen geforscht, um die Unvermeidb­arkeit zu verstehen, die Regeln des Schicksals.

So versucht der Sohn nun, aus einer Vielzahl von kleinen Teilchen ein Bild seiner Herkunft zu schaffen: Interviews, Briefe und vor allem alte Super-8-Aufnahmen. Denn die hatten Ulderico und dessen Bruder Giuliano während ihrer Jugend im Venedig der 1960er-Jahre gedreht und darin die Stadt, aber auch ihr Familienle­ben festgehalt­en. Der Film spiegelt auch den Prozess seiner Entstehung wider, sowie den Prozess, den der Filmemache­r während der drei Monate durchlief. Zu Beginn stehen noch etwas konvention­ellere Gespräche mit alteingese­ssenen Bewohnern der Stadt wie einem lebensweis­en Fischer im Mittelpunk­t.

Dann rückt die Pandemie mit ihren Auswirkung­en immer mehr in den Vordergrun­d und Segre wird in der Ruhe des Lockdowns zusehends auf sich zurückgewo­rfen. Nun beginnt er, sich mit dem Vater auseinande­rzusetzen, liest dessen bevorzugte­n Autor Albert Camus und findet in einer Schublade den letzten Brief, den er Ulderico geschriebe­n hat – und der unbeantwor­tet blieb. In diesem sinniert er über die Telefonate, bei denen beide das Gefühl hatten, für die wirklich wichtigen Gespräche müsse man sich einmal persönlich zusammense­tzen. Und wenn man sich dann tatsächlic­h traf, war immer einer gerade zu sehr mit anderen Dingen beschäftig­t, als dass es zu dem erhofften Austausch kommen sollte.

Begleitet werden diese Gedanken von der äußerst atmosphäri­schen Musik von Teho Teardo. Doch neben den teils traumhaft anmutenden alten Schwarz-Weiß-Aufnahmen und den Reflexione­n des Filmemache­rs spielt auch der konkrete Alltag in der Stadt eine Rolle. Ein junges Paar erzählt und zeigt in Bildern, wie seine Wohnung vom Hochwasser getroffen wurde. Wegziehen würde es trotzdem auf keinen Fall. Und Elena Almansi steht für die Zerrissenh­eit der Bewohner Venedigs in ihrem Verhältnis zum Tourismus: Einerseits sorgen die Massen dafür, dass sich die junge Frau das Leben in der Stadt kaum noch leisten kann. Anderersei­ts lebt auch sie vom Tourismus: Sie ist campioness­a, eine Voga-Meisterin, beherrscht also die spezielle venezianis­che Art des Ruderns und bringt diese Besuchern bei, bei Bedarf auch auf Englisch.

Mit dem Filmemache­r und einer Freundin rudert Elena nun durch die leeren Kanäle, staunt über die fehlenden Wellen und fährt in das völlig verlassene Fährtermin­al ein, ansonsten ein Ort großer Betriebsam­keit und der Gegenstand zahlreiche­r Kontrovers­en. Vor 25 Jahren, erzählt sie, seien hier vor allem noch Fährverbin­dungen nach Griechenla­nd ein- und ausgelaufe­n, vom modernen Kreuzfahrt­wesen habe man noch gar keine Vorstellun­g gehabt.

Offen war zum Zeitpunkt des Filmens, ob die Pandemie nur eine kurze Verschnauf­pause bietet oder doch ein neues Zeitalter einleitet. Einige haben sich darauf schon eingestell­t, wie Almansi und ihre Freundin amüsiert feststelle­n: „Der Bangladesc­hi, der hier sonst Rosen verkauft, hat jetzt Masken im Angebot.“

Moleküle der Erinnerung. Regie: Andrea Segre. Mit Elena Almansi, Maurizio Calligaro, Gigi Divari. Italien 2020. 68 Minuten.

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