Freiheit durch Hoffnung
Zuversicht fällt in diesen Tagen schwer – Über eine 65-jährige Allgäuerin, die einen Weg aus Dunkelheit und Trauer fand
MVon Dirk Grupe
anche Menschen erleben so etwas wie die sprichwörtliche Stunde null. Ein Moment, in dem alles, was war, und alles, was noch kommen sollte, in sich zusammenbricht. In dem Dasein und Glaube erstarren, in dem sich Wirklichkeit und Wahn kaum noch unterscheiden lassen. Für Sieglinde A. kam dieser Moment Mitte Januar dieses Jahres in der Fachklinik Wangen der WaldburgZeil Kliniken. Eigentlich wollte sie im April mit ihrem Mann nach Spanien auswandern, um das Rentendasein im sonnigen und warmen Süden zu verbringen. Die Eigentumswohnung in Memmingen war bereits verkauft und ein schmuckes Häuschen an der Costa Blanca erworben. Dann bekam ihr Mann jedoch Covid-19. Und kurz darauf erkrankte auch sie sehr schwer.
Für sechs Wochen fiel Sieglinde A. ins Koma, stürzte in einen Alptraum zwischen Leben und Tod. Zweimal innerhalb dieser Zeit gaben die Ärzte die 65-Jährige schon auf, riefen Tochter und Sohn ans Bett, um von der Mutter Abschied zu nehmen. „Zweimal bin ich dem Tod jedoch von der Schippe gesprungen“, sagt sie. Wertschätzen konnte sie diesen Selbsterhalt aber nicht, als sie Mitte Januar Besuch von ihren Kindern bekam. Zu diesem Zeitpunkt lag sie noch im Bett, konnte bis auf eine Hand den Körper nicht bewegen. Konnte nicht sprechen und nicht antworten, als die Kinder ihr erklären mussten, dass ihr Mann schon Wochen zuvor in der Klinik verstorben war. „Damals wollte ich aufgeben“, sagt Sieglinde A. An Körper und Geist wie gelähmt, den Partner verloren, schien ihr jede Hoffnung zunichte, auf das Hier und Jetzt genauso wie auf die Zukunft.
Hoffnung. Sie begleitet uns im Alltag wie im Abenteuer, im Kleinen wie im Großen. Wir hoffen auf einen erfolgreichen Arbeitstag genauso wie auf einen Sieg für unseren Fußballverein. Wir hoffen auf Genesung von Krankheiten und die Unversehrtheit unserer Kinder. Wir hoffen in diesen Tagen auf nichts sehnlicher als auf das Ende von Abstand, Einschränkung und Pandemie. Hoffnung, mag sie auch manchmal trügerisch sein, gibt uns Halt und Sicherheit, ist Motor und Energie des Lebens, fest verankert in Sprache und Redewendung. Demnach wir Hoffnung hegen, sie schöpfen und nicht aufgeben, sie zuletzt stirbt und manchmal auch nicht mehr besteht. So wie es in der Stunde null Sieglinde A. erging.
Ihre Tragödie begann im November 2020, als sie ihr Büro für kaufmännische Dienstleistungen bereits verkauft hatte und ihr Mann, ein Disponent bei einem Paketdienst, die letzten Wochen bis zum Rentendasein zählte. Damals erschien ein Mitarbeiter mit Grippesymptomen zur Arbeit. „Mein Mann hat noch zu ihm gesagt, er solle doch nach Hause gehen und sich auskurieren. Das lehnte der Kollege aber ab, weil er die Nachtschichtzuschläge bräuchte.“Nur wenig später bekam ihr Mann Gliederschmerzen und Fieber, konnte nur schwer atmen, sodass der 59-Jährige am 16. November – dem Geburtstag von Sieglinde A. – ins Krankenhaus eingeliefert wurde. „An diesem Tag habe ich ihn das letzte Mal gesehen.“
Kurz darauf kam auch sie mit schwerem Fieber und Kopfschmerzen in die Klinik, erhielt ebenfalls die Diagnose Covid-19. Nach nur zwei Tagen wurde sie auf die Intensivstation verlegt, fiel ins Koma, erhielt einen Luftröhrenschnitt und musste künstlich beatmet werden – und war mehrfach dem Tod näher als dem Leben. Bis das Pendel schließlich auf der glücklicheren Seite stehen blieb.
„In der ersten Aufwachzeit kam mir alles wie in einem Film vor“, sagt Sieglinde A., die lange nicht unterscheiden konnte zwischen Illusion und Wirklichkeit. Die tagelang fantasierte, sie würde in der Klinik gefesselt und gefangen gehalten und müsse Hilfe holen und fliehen. „Das habe ich mir vermutlich deshalb eingebildet, weil meine Muskulatur so schwach war und die Bettdecke wie Beton auf mir lag.“
Nach zwei Wochen normalisierte sich ihr Zustand langsam ins Positive. Die Sonde für die künstliche Ernährung konnte entfernt werden, in beide Hände kehrte Gefühl zurück und Stück für Stück konnte sie auch ihre Zehen wieder bewegen. Leicht fiel ihr diese Wiederbelebung aber nicht. „Das ist verdammt schmerzhaft, wenn die Muskulatur zurückkommt, die Nerven spielen dann verrückt.“
Und das war noch nicht alles, zwischendurch fielen ihr die Haare aus, sie vertrug die Medikamente nicht und im Körper bildeten sich Entzündungen. „Es hat nie ein Ende genommen“, sagt sie, „es kamen immer neue Hiobsbotschaften dazu.“
Zu dieser Zeit war die erkrankte Frau oft niedergeschlagen, ohne Kraft und ohne Mut, und mit ihrer Hoffnung beinahe am Ende. „Damals habe ich mir geschworen: Bis nächstes Weihnachten mache ich das noch mit. Dann will ich wieder ein Mensch sein. Andernfalls gebe ich auf.“Bis dahin aber zählte nur eines für sie: „Kämpfen, kämpfen, kämpfen. Ich hatte ja ein Ziel – Spanien.“
In diesen schweren Tagen hat sie oft das Gespräch mit Franziska Müller gesucht, die evangelische Pfarrerin an den Fachkliniken in Wangen sagt über Sieglinde A.: „Sie hat immer nach vorne geschaut. Sie ist der Idealfall einer Hoffnungsträgerin.“Hoffnung ist der Seelsorgerin ihr wichtigstes Instrument, Hoffnung ist Material und Baustein, aus denen die oft schwer leidenden Patienten Resilienz entwickeln. Nicht selten gespeist aus der Vergangenheit, denn: „Die Erfahrung kann Hoffnung geben.“Das Wissen darum, schon früher Krisen und Tiefen überstanden zu haben, als aus scheinbarer Hoffnungslosigkeit wieder Perspektive entstand.
Für Christen ist dieses Prinzip manifestiert in den Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung. „Das ist unsere Grunderwartung: dass Gott uns nicht alleine lässt“, sagt die Pfarrerin. „Es heißt ja: ,Am Ende wird alles gut werden. Und wenn es noch nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.’ Ursprünglich fand ich diesen Satz banal, doch zunehmend hoffe ich darauf in der Klinik.“Dass ein Zustand eintritt, in dem das Atmen dem Menschen nicht mehr schwerfällt, in dem sich Dunkelheit und Kampf verflüchtigen. Und sei es im Angesicht des Todes. Hegen doch Gläubige wie Nichtgläubige die Sehnsucht, nicht voller Angst und im Alleinsein zu sterben. „Diese Hoffnung können wir in der Regel geben“, sagt Müller.
Hoffnung ist somit ein mächtiger Modus und ein seelischer Anker, aber nicht zu verwechseln mit Optimismus und starrsinnigem Selbstglauben, sondern in Übereinstimmung mit dem, was ist und mit dem, was wir erleben. Zu hoffen heißt in diesem Sinne, auf das Gute zu vertrauen – egal wie es wird. „Dann ist Hoffnung nie trügerisch“, sagt Müller, „dann ist sie die Kraftquelle, die wir brauchen.“
Sieglinde A. hat diese Quelle gefunden. Zu Ostern wurde sie, noch auf den Rollstuhl angewiesen, aus der Klinik entlassen, fand Aufnahme bei ihrer Tochter. Von Anfang
an aber mit dem Vorsatz, niemandem auf Dauer zur Last fallen zu wollen. Mit den Wochen und Monaten wurden Beweglichkeit und Sauerstoffwerte auch immer besser, sodass sie gegen den anfänglichen Widerstand ihrer Kinder beschloss: „Im Juni siedle ich nach Spanien um.“Dort lebt sie nun, in dem Haus, das sie noch mit ihrem Mann ausgesucht und gekauft hatte, an der Costa Blanca unweit von Alicante. „Ich bin im Paradies angekommen“, berichtet sie beim Telefonat mit der „Schwäbischen Zeitung“. Paradiesisch schön ist schon am Morgen das Aufstehen, wenn sie von ihrem Haus aus die Sonne über dem Meer aufgehen sieht. „Das ist ein Wow-Anblick, den ich jetzt jeden Tag genieße. Das hilft mir.“
Inzwischen braucht sie auch das mobile Sauerstoffgerät nicht mehr, das ihren Bewegungsradius auf wenige Meter einschränkte, jetzt kann sie ungehindert das Gelände ablaufen und erreicht im Garten endlich auch ihre Hollywoodschaukel. „Das sind zwar nur Kleinigkeiten, die mir aber so guttun.“Auch mit ihrem 270-PS-Sportwagen unternimmt sie nun Touren, „das Teil macht richtig Spaß, wenn ich es röhren lasse“, sagt sie laut lachend. Gesellschaft leistet ihr eine Berner Sennenhündin, mit der sie am Meer spazieren geht und ihre Einkäufe erledigt. Daheim kocht sie oder dreht die Musik laut auf und absolviert dazu auf der Terrasse ihre Gymnastik oder tanzt. „Ich bin so dankbar, dass ich das noch alles erleben darf.“Obwohl sie es jetzt allein erlebt.
„Ich vermisse meinen Mann unwahrscheinlich“, sagt Sieglinde A. 35 Jahre waren die beiden verheiratet, eine gewachsene und liebevolle Partnerschaft. „Er fehlt mir einfach.“Und die Sehnsucht nach ihm wird im Laufe der Zeit eher größer als kleiner, erzählt sie. Vor allem am Abend kommen die Erinnerungen, dann wünscht sie sich die Vertrautheit und die Zweisamkeit. „In Gedanken sehe ich ihn manchmal hier auf der Terrasse sitzen oder im Garten laufen. Dann ist er bei mir“, dann kullern bei ihr auch schon mal die Tränen. „Die Erkenntnis dabei, dass es endgültig ist, fällt mir wahnsinnig schwer.“Dass es nicht so gekommen ist, wie einst von beiden erhofft und auch erträumt.
„Hoffnung ist eine Loslösung vom Anspruch auf eine Erfolgsgarantie“, sagt der Philosoph Giovanni Maio von der Universität Freiburg, „und die Gewissheit, dass es Sinn macht, an das Morgen zu glauben.“Der Mensch dagegen, der nicht hofft und alles hinschmeißt, nimmt sich die Freiheit, seine Zukunft zu gestalten.
Aufgeben ist für Sieglinde A. keine Option mehr. „Alles, was ich hier machen kann, ist wie ein geschenktes zweites Leben“, erklärt sie. Im Bewusstsein, ihr Ziel erreicht zu haben und wieder Mensch sein zu dürfen, was auch immer die Zukunft bringen mag. „Ich wünsche mir nur, dass ich oft Besuch bekomme, von der Familie, von Freunden und Bekannten.“Damit ihr das Alleinsein die Seele nicht beschwert. Damit sie auf das Gute vertrauen kann, egal wie es wird.