Ein Land zerfällt
Der fragile Vielvölkerstaat Bosnien-Herzegowina wird von nationalistischen Politikern gezielt geschwächt – Gerade die gut ausgebildeten Menschen verlassen die Heimat
- In Bosnien wächst die Angst vor einer Destabilisierung des Landes. Eine steigende Zahl von Menschen will das Land verlassen. Die Europäische Union tut wenig dagegen, dass an ihren Außengrenzen ein Land im Zerfall begriffen ist. „Wir können in zwei Stunden an der Grenze sein“, sagt ein Bosnier im vertraulichen Gespräch. „Ich war einmal hier im Krieg und habe meinen Bruder verloren, ein zweites Mal mache ich das nicht mit.“Wie er sitzen viele auf gepackten Koffern. Selbst Leute, die ausgezeichnete Jobs haben, suchen nach Wegen, das Land zu verlassen. Allein zwischen dem 1. und 17. Dezember haben mehr als 150 000 Bosnier um einen Termin für ein Visum bei der Deutschen Botschaft in Sarajevo angesucht, wie der Politologe Samir Behari kürzlich öffentlich machte.
Grund für den Massenexodus sind Armut, Korruption – und zunehmend auch die Instabilität des Staates mit seinen etwa drei Millionen Einwohnern. Insbesondere seit diesem Herbst hat sich die Lage noch einmal verschärft: Anfang Oktober verkündete Milorad Dodik, rechtsradikaler Chef der bosnisch-serbischen Regierungspartei SNSD, dass sich der serbische Teilstaat, die Republika Srpska (RS), aus den gesamtstaatlichen Institutionen BosnienHerzegowinas zurückziehen werde. Das betrifft die gemeinsame Justiz, die Steuerbehörden und die Armee. Bislang arbeiten dort RS-Vertreter mit Bosniern und Kroaten zusammen.
Dodik ist selbst Mitglied des Staatspräsidiums im Gesamtstaat Bosnien-Herzegowina. Lange schon arbeitet er auf eine Sezession der RS hin. Durch ihre Blockadepolitik verhindern Dodik und andere Nationalisten seit etwa zehn Jahren ein Fortkommen des gemeinsamen Staates.
Die Internationale Gemeinschaft – vor allem die EU – setzte vor etwa 15 Jahren auf das Modell der „local ownership“: Die internationale Präsenz sollte verringert werden und lokale Politiker Verantwortung übernehmen. Das Gegenteil geschah. Gleichzeitig wurde das Amt des Hohen Repräsentanten (OHR), das für die Umsetzung des Friedensvertrags von Dayton zuständig ist, geschwächt. Dieser 1995 geschlossene Vertrag schuf das Konstrukt der zwei Teilstaaten, bestehend aus der Republika Srpska und der Föderation von Bosnien und Herzegowina. Diese sind mit weitreichenden Rechten gegenüber dem Staat Bosnien-Herzegowina ausgestattet. Seit August hat das Amt des Hohen Repräsentanten der ehemalige deutsche Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt inne. Die Ernennung des CSU-Mannes wird von Russland und China aber nicht akzeptiert. Auch die nationalistische SNSD erkennt ihn nicht an – Dodik nannte Schmidt einen Touristen im Lande. Dabei kann nur der Oberste Repräsentant – aufgrund seiner Vollmachten – im Krisenfall wirklich eingreifen.
Heute versuchen Dodik und seine Verbündeten den Staat von innen auszuhöhlen. In diesen Tagen kündigte er an, dass der Staatsanwaltschaft von Bosnien-Herzegowina, aber auch dem gesamtstaatlichen Gericht im kommenden Monat durch Beschlüsse des Parlaments der Republika Srpska untersagt werden würde, in der RS tätig zu werden.
Und die Nationalisten haben Verbündete: Zu ihnen gehören Russland, aber auch Vertreter der Nachbarstaaten Kroatien und Serbien, außerdem die Regierungen der EU-Staaten Ungarn und Slowenien.
Sloweniens Premier Janez Janša reichte etwa ein Papier herum, in dem vorgeschlagen wird, Grenzen nach ethnischen Kriterien auf dem Balkan neu zu ziehen – dies würde unweigerlich zu Gewalt führen. Als Janšas Lobbyarbeit im Frühjahr bekannt wurde, behauptete er im Nachhinein, dass es das Papier gar nicht gäbe.
Doch auf dem Balkan wurde sofort vermutet, dass dahinter die bosnisch-serbischen Nationalisten um Dodik standen. Der Versuch, Grenzen nach ethnischen Kriterien neu zu ziehen, hatte in den 1990er-Jahren zum Kroatien-Krieg (1991-1995) und zum Bosnien-Krieg (1992-1995) geführt. Hunderttausende Menschen wurden damals vertrieben, Zehntausende getötet. Den serbischen Nationalisten gelang damals zwar nicht, den Staat Bosnien-Herzegowina zu zerstören. Ihr politisches Ziel bleibt aber ein Großserbien, zu dem auch die RS gehören würde.
Die EU-Staaten haben sich bislang nicht auf Sanktionen einigen können. Im Gegenteil: Der ungarische EU-Kommissar Olivér Várhelyi und Ungarns Premier Viktor Orbán unterstützen die Nationalisten ganz offensichtlich. Orbán stellte der RS, die unter chronischer Geldnot leidet, nicht nur einen Kredit über 100 Millionen Euro zur Verfügung. Aus EUKreisen wurde auch bekannt, dass in
Brüssel – offenbar aufgrund des Wunsches Orbáns und Várhelyis – erwogen wurde, der RS 600 Millionen Euro zu geben.
Die Schuld für die Krise sieht Várhelyi nicht bei Dodiks sezessionistischer Politik, sondern bei dem früheren Hohen Repräsentanten Valentin Inzko. Der Österreicher hatte im Sommer ein Gesetz erlassen, das die Verharmlosung oder Verleugnung von Kriegsverbrechen und die Verherrlichung von Kriegsverbrechern unter Strafe stellt. Das Gesetz zeigte auch Wirkung. Doch Dodik nahm es zum Anlass, die Institutionen zu blockieren. Er behauptete, das Gesetz sei „antiserbisch“. Dabei spielt die Zugehörigkeit zu Nationalitäten in dem Gesetz keine Rolle. Die Leugnung von Verbrechen, die Bosniaken begangen haben, ist genauso verboten wie die Leugnung von Verbrechen, die Serben oder Kroaten begangen haben.
Auf internationaler Ebene setzt sich innerhalb der Nato derzeit vor allem Großbritannien gegen eine
Schwächung des bosnischen Gesamtstaates ein und wirbt dafür, Dodik und seine Getreuen mit Sanktionen zu belegen, so wie es die USA bereits seit dem Jahr 2009 tun. In London nimmt man auch mit Besorgnis zur Kenntnis, dass Russland 2500 halbautomatische Waffen an die Polizei der Republika Srpska geliefert hat und dass Serbien selbst stark aufrüstet.
Gemeinsam mit den Niederlanden erklärte Deutschland jetzt im EU-Rat, man werde eine weitere ethnische Spaltung des Landes nicht unterstützen. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) hat sich klar für Sanktionen gegen Dodik ausgesprochen. Wie stark sich gerade die Bundesregierung für Stabilität auf dem Balkan einsetzt, wird darüber entscheiden, ob noch mehr Bosnier ihre Koffer packen – wiederum oft mit Deutschland als Ziel.