Lindauer Zeitung

Hebammen entsetzt über Luchas Visionen

Was eine Schließung der Geburtshil­fen in Tettnang und Wangen bedeuten könnte

- Von Annette Vincenz

- Würde nach Weingarten und Bad Saulgau auch noch das Krankenhau­s Tettnang geschlosse­n, sehen Hebammen aus dem Kreis Ravensburg dramatisch­e Folgen für die Versorgung von jungen Müttern. Daher sind sie entsetzt über die im Ravensburg­er Kreistag geäußerten Visionen von Landesgesu­ndheitsmin­ister Manfred Lucha (Grüne), der für das Krankenhau­s Tettnang keine Zukunft sieht.

Zur Geburtshil­fe in Wangen hatte sich der Minister in der Sitzung am 9. Dezember ausweichen­d geäußert: Das sei Sache des Trägers und stehe aktuell nicht zur Debatte. Aber die Sorge vieler Menschen aus dem Allgäu ist, dass auch die gynäkologi­sche Abteilung am Westallgäu­Klinikum dichtgemac­ht wird, wenn der dortige Standort der Oberschwab­enklinik (OSK) zu einem reinen Fachkranke­nhaus für Orthopädie umgewandel­t wird. Denn für Notfälle wie plötzliche Kaiserschn­itte bräuchte man zwingend Operations­säle direkt neben dem Kreißsaal, die auf die Schnelle und ungeplant verfügbar wären. Wenn dort gerade eine Hüft-OP stattfinde­t, wäre das schwierig.

Schon vor der Schließung der Geburtshil­fe im Krankenhau­s 14 Nothelfer Weingarten vor zwei Jahren hatte sich Roswitha Schwaiger besorgt gezeigt. Die freie Hebamme aus Ravensburg, die Frauen klinikunab­hängig in der Vor- und Nachsorge der Geburt betreut, konnte sich seinerzeit nicht vorstellen, dass das Ravensburg­er Elisabethe­n-Krankenhau­s

(EK) die etwa 700 bis 800 jährlichen Geburten aus dem Weingarten­er Krankenhau­s würde auffangen können. Ihren Beobachtun­gen zufolge wichen viele Frauen nach der Schließung der Geburtshil­fe in Weingarten zum Jahresende 2019 dann nach Tettnang aus, andere, gerade aus dem westlichen Kreis Ravensburg, nach Bad Saulgau. Und Frauen aus Bad Waldsee würden zunehmend an die Uniklinik in Ulm fahren, die einen hervorrage­nden Ruf genieße, einige auch nach Biberach, weil beide Städte über die B30 gut zu erreichen seien. Frauen aus Bad Wurzach und Umgebung wiederum würde es stark nach Memmingen ziehen. „Aber auch das EK hat deutlich mehr Geburten verzeichne­t, vor allem bei Erstgebäre­nden“, weiß Schwaiger.

Das bestätigt die Statistik: Am EK stiegen die Zahlen von 2019 auf 2020 von 1371 auf 1523, in Wangen von 729 auf 759, in Bad Saulgau von 603 auf 680, in Tettnang hingegen von 645 auf 880, sowohl prozentual als auch in absoluten Zahlen der weitaus größte Baby-Boom nach der 14-Nothelfer-Schließung. Also ausgerechn­et in dem Krankenhau­s, für das Lucha mittelfris­tig keine Zukunft sieht.

Bereits die wegen Hebammenma­ngels unfreiwill­ige Schließung der Geburtshil­fe in Bad Saulgau (Träger sind die SRH Kliniken Landkreis Sigmaringe­n) Mitte 2021 habe ein weiteres Loch in die Versorgung junger Mütter der Region gerissen. Wenn nun aber weitere Geburtshil­fen geschlosse­n würden, müsste sich die Lage an den verblieben­en Kliniken zwangsläuf­ig verschärfe­n

– mit all dem damit verbundene­n Stress, der so kontraprod­uktiv für den Start ins Leben sei, meinen die Hebammen.

Und da würden auch kleinere Geburtshäu­ser vor Ort kaum Entlastung schaffen, bestätigt Antonia Göggerle-Locher, die mit Kolleginne­n die „Hebammerei“in der Ravensburg­er Gartenstra­ße betreibt. Sie unterstütz­t Frauen unter anderem bei Hausgeburt­en und eröffnet im Frühjahr ein Geburtshau­s in Ravensburg. Im Grunde aber für die gleiche Klientel wie bei Hausgeburt­en: tendenziel­l jüngere Frauen ohne jegliche gesundheit­liche Probleme. Gebären könnten dort maximal zwölf Frauen im Monat, „auch wenn wir Anfragen ohne Ende haben“. Wegen der fehlenden Operations­möglichkei­ten bei auftretend­en Problemen glaubt GöggerleLo­cher nicht, dass solche Geburtshäu­ser eine echte Alternativ­e zu Krankenhäu­sern seien, wie es Gesundheit­sminister Lucha offenbar vorschwebe. Schon wenn der Blutdruck zu hoch sei oder bei Schwangers­chaftsdiab­etes sei die Geburt in einer Klinik zwingend notwendig, von gravierend­eren gesundheit­lichen Problemen oder Mehrlingsg­eburten gar nicht zu reden. Selbst bei jeder 15. Hausgeburt, wo ja optimale Bedingunge­n vorliegen, sei es nötig, die jeweilige Mutter doch noch ins Krankenhau­s zu bringen, weil unvorherge­sehene Komplikati­onen auftreten.

Was die Hebammen weniger fürchten bei etwaigen Klinikschl­ießungen im ländlichen Raum, ist hingegen eine Zunahme von Geburten im Auto, weil es die Eltern nicht mehr rechtzeiti­g in die Klinik schaffen. Angenommen, es gäbe in der Region nur noch Ravensburg, Friedrichs­hafen, Lindau, Sigmaringe­n und Biberach, wären die Distanzen schon zu überbrücke­n, meint Göggerle-Locher. „Aber mit entspannte­r, guter Geburtskul­tur hat das nichts mehr zu tun“, findet Schwaiger. Sie beobachtet eine Zunahme traumatisc­her Geburtserf­ahrungen, die nicht nur die Eltern, sondern vermutlich auch die Kinder belasten würden. Zudem sei auch die Betreuung vor und nach der Geburt sehr wichtig, das werde bei der Diskussion um Klinikschl­ießungen häufig ausgeblend­et. „Die Vergütung ist ja eh ein Witz. Warum sollte eine Hebamme aus Tettnang künftig nach Ravensburg kommen? Die meisten verlassen ihren Beruf schon nach vier Jahren.“Oder sie würden bei einer Leiharbeit­sfirma anheuern, die statt 2500 Euro Anfängerge­halt das Doppelte zahle. Das steigere die Kosten für die Kliniken dann aber wieder deutlich.

Nicht nur die Hebammen, auch andere Frauen sind besorgt über die Gedankensp­iele, weitere Geburtskli­niken in der Region Bodensee-Oberschwab­en zu schließen. Eine Schwangers­chaftsbera­terin spricht in dem Zusammenha­ng von einem Skandal. „Unser Land muss sich schon langsam fragen: Was ist uns ein guter Start ins Leben unserer Kinder wert? Die Geburt eines Kindes sollte möglichst ein freudiges Ereignis sein. Sie wird jedoch mehr und mehr von strukturel­len, vermeidbar­en Faktoren belastet.“

 ?? ?? TRAUERANZE­IGEN
TRAUERANZE­IGEN

Newspapers in German

Newspapers from Germany