Lindauer Zeitung

Der große Druck ist erst mal weg

In Oberstdorf hat ihn die hohe Erwartungs­haltung gebremst – In Garmisch hofft Karl Geiger auf die Wende

- Von Klaus-Eckhard Jost

- Zwischen den Interviews der verschiede­nen Fernsehsta­tionen hat Karl Geiger dann auch seine Familie entdeckt. Seine Frau Franziska und seine jüngere Schwester Lucia. Also beugte er sich über die große Werbebande und nahm beide lange in seine Arme. So viel Privates musste sein für den Familienme­nschen Geiger an diesem Abend in der Oberstdorf­er Schattenbe­rgarena. In diesem Moment löst sich dann auch der ganze Druck, der auf dem 28-Jährigen gelastet hatte.

Als großer Favorit war er in seinem heimischen Stadion in die Vierschanz­entournee gestartet. Schließlic­h durfte er das Gelbe Trikot des Führenden im Gesamt-Weltcup tragen. Fünfter war er letztlich nach den beiden Durchgänge­n geworden. 6,1 Punkte, das sind umgerechne­t etwa 3,40 Meter, war Tagessiege­r Ryoyu Kobayashi besser gewesen. Der Japaner, im Winter 2018/2019 bereits Gewinner der prestigetr­ächtigen Tournee mit Siegen auf allen vier Schanzen, ist der große Gegenspiel­er des Allgäuers.

„Im ersten Moment war ich ein wenig enttäuscht“, bekannte Geiger kurz nach dem Springen. Doch mit der Zeit wich der Enttäuschu­ng die Erkenntnis, dass er einen guten Wettkampf abgeliefer­t hatte. Denn die Verhältnis­se waren alles andere als leicht. Dass es während des gesamten Wettkampfe­s mächtig regnete, war noch das kleinste Handicap. Aber der Wind drehte mehrmals. Keine leichte Aufgabe für die Jury. Die reagierte auf den 141-Meter-Flug von Kobayashi, indem sie zunächst eine, direkt vor Geiger den Balken zwei Luken nach unten versetzen ließ. Um nach zwei Springern wieder zwei Luken nach oben zu gehen. „Dass immer wieder verkürzt wurde, hat mir gezeigt, dass der Wind ganz gut ist“, sagte Geiger. Weil ihm jedoch nicht der perfekte Sprung gelungen war, hatte er die guten Verhältnis­se nicht optimal ausnutzen können. „Der Sprung war gut, aber er war nicht so gut, wie ich es kann“, sagte er zu seiner Leistung.

Bundestrai­ner Stefan Horngacher wollte in diesem Punkt seinem Vorspringe­r nicht widersprec­hen. Deshalb ging er nicht weiter auf die sprungtech­nischen Komponente­n ein, sondern wandte sich den menschlich­en zu. „Er war schon sehr unter Strom heute“, erzählte er hinterher in einer kleinen Medienrund­e. Auch Geiger hatte zuvor zugegeben: „Die Spannung war doch ein wenig höher als gedacht.“Wie hat sich das bei dem Springer, der als ruhiger und mental starker Springer gilt, geäußert? „Hippelig ist der Karl nie“, beschrieb Horngacher Geigers Charakter, „er ist dann eher ruhiger, wirkt eher konzentrie­rter.“Ähnlich habe er den Allgäuer schon erlebt, aber so extrem noch nicht. „Man hat gesehen, dass es für ihn eine schwierige Situation war“, sagte er, um nach einer kurzen Pause anzufügen: „Aber die hat er gut gemeistert.“

Doch was hat Karl Geiger ausgerechn­et bei diesem Wettkampf am 29. Dezember 2021 so gestresst? Schließlic­h lagen bei der Heim-Weltmeiste­rschaft im Februar auch schon alle Hoffnungen auf den schmalen Schultern des 1,85 Meter langen Schlakses. „Mit dem gelben Trikot ist Karl noch nie auf seine Heimschanz­e angereist“, nennt Horngacher als Grund. Dieses Stück Stoff, von dem Geiger sagt, dass es ihm gut stehe, mache definitiv mit seinem Träger etwas. „Wenn du als Letzter oben sitzt und siehst, wie die anderen springen und du weißt, dass du einen guten Sprung machen musst, weil du sonst weg bist.“Dieser Druck löse in jedem Menschen etwas Besonderes aus. Aber Horngacher lobt sogleich: „Karl hat das gut gelöst gekriegt.“

Der große Druck ist jetzt erst einmal weg von Karl Geiger. Der liegt nun bei Ryoyu Kobayashi. Das gefällt Coach Horngacher. Der, um diesen zu erhöhen, sagt: „Kobayashi ist der Topfavorit.“Doch auch der 25-jährige Japaner

ruht in sich. Wie Geiger vor einem Jahr musste auch der 1,73 Meter große Flugästhet wegen eines positiven Corona-Tests in Quarantäne. Doch diese brachte ihn weder physisch noch psychisch aus der Balance, wie seine Siege danach in Klingentha­l und Engelberg bewiesen haben. Und der zum Tourneeauf­takt in Oberstdorf. Doch Sorgen macht sich Bundestrai­ner Horngacher deswegen keine. „Man sieht, dass er gut springt“, sagt er, „aber Karl kann ihn auch schlagen.“In Engelberg und mit einem besseren ersten Sprung auf seiner Heimschanz­e.

Frisch erholt setzt der SkiflugWel­tmeister deshalb auf der zweiten Tourneesta­tion in Garmisch-Partenkirc­hen

Bundestrai­ner Stefan Horngacher über Auftaktsie­ger Ryoyu Kobayashi

ganz auf Angriff – der erste deutsche Gesamtsieg seit zwei Jahrzehnte­n bleibt erklärtes Ziel. „Die Ausgangspo­sition ist weiterhin gut, das waren erst zwei von acht Sprüngen“, sagte Geiger vor der Abreise in den 100 Kilometer entfernten Olympiaort von 1936: „Jetzt heißt es, etwas runter- und dann im richtigen Moment wieder hochzufahr­en.“Der richtige Moment ist zunächst die Qualifikat­ion an Silvester, vor allem aber das Neujahrssp­ringen am Samstag (jeweils 14.00 Uhr/ZDF und Eurosport). Für die folgenden drei Wettbewerb­e hat Horngacher eine besondere Devise ausgegeben. „Primär liegt der Fokus nicht darauf, auf Sieg zu springen“, sagt er, „sondern der Fokus liegt darauf, keine großen Fehler zu machen und Sprünge im 95-Prozent-Bereich abzuliefer­n.“Ob das reicht, wird sich spätestens am Dreikönigs­tag in Bischofsho­fen zeigen.

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FOTO: MIS/IMAGO IMAGES Auch seine Teamkolleg­en Markus Eisenbichl­er (li.) und Stephan Leyhe glauben weiter an einen Tourneesie­g von Karl Geiger (re.). Nach Platz fünf beim Auftaktspr­ingen in Oberstdorf möchte der Weltcupfüh­rende beim Neujahrssp­ringen in Garmisch wieder angreifen.

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