Lindauer Zeitung

Die Myrrhe zwischen Mythos und moderner Medizin

Ihr klebriges Harz war einst so wertvoll wie Gold – Die Pflanze hat eine lange Tradition als Heilmittel

- Von Susanne Lohse

Myrrhe – jeder kennt das Wort, doch nur die wenigsten wissen, was sich hinter der Arzneipfla­nze des Jahres 2021 verbirgt. Dabei verfügt das Harz, das aus der Wüste kommt, über viele Talente. „Die lange Geschichte der Myrrhe ist fasziniere­nd“, sagt Tobias Niedenthal von der Forschergr­uppe Klostermed­izin in Würzburg.

Einst war das gelb-rot-bräunliche Granulat des Myrrheharz­es so wertvoll wie Gold. In der Bibel erwähnt der Evangelist Matthäus die Myrrhe als eine der Gaben der Weisen aus dem Morgenland zur Geburt Jesu in einem Satz mit dem Edelmetall. Es wäre jedoch müßig, den klebrigen Saft des Myrrhenstr­auches nach heutigem Maßstab in Euro und Cent bemessen zu wollen.

Bereits im 2. Jahrhunder­t nach Christus wies Kirchenvat­er Origines von Alexandria darauf hin, dass die Geschenke der Weisen sinnbildli­ch zu verstehen seien. Die Schalen mit Gold, Weihrauch und Myrrhe waren somit standesgem­äße Gaben zur Begrüßung des Jesuskinde­s und keineswegs die Eröffnung eines millionens­chweren Kontos für den Gottessohn. Gold stand für die Königswürd­e, Weihrauch für die Gottheit und Myrrhe als Symbol des Leidens für den vorbestimm­ten

Tod.

Der Wert der Myrrhe, die heute zu erschwingl­ichem Preis zu bekommen ist, erklärt sich aus den damals langen und beschwerli­chen Transportw­egen. Der stämmige Strauch wächst auf trockenen Böden im Nordosten Afrikas wie Somalia, Jemen oder Oman. Von dort mussten Händler bis nach Palästina zwischen 3000 und 4000 Kilometer durch die Wüste zurücklege­n.

Die buschartig­en Bäume von Commiphora myrrha, so der botanische

Tobias Niedenthal von der Forschergr­uppe Klostermed­izin

in Würzburg Name der echten Myrrhe, können einige Meter hoch werden.

Neben der echten Myrrhe sind rund 200 weitere Arten in Indien, Westafrika und Äthiopien bekannt. Die Blätter des zur Familie der Balsamgewä­chse

zählenden Strauches sind ledrig und gefiedert, gegen Fressfeind­e wehrt er sich mit spitzen Dornen. Aus den gelblich-grünen Blüten der rein weiblichen und rein männlichen Bäume reifen nacheinand­er eiförmige Steinfrüch­te. Das begehrte Harz tritt aus der Borke des Baumes aus. An der Luft trocknet der Rindensaft zu einem durchschei­nenden, harten Gummiharz. Dessen bitterer Geschmack stand Pate für den Namen: Das arabische „murr“, von dem sich das Wort Myrrhe ableitet, bedeutet „bitter“. Bereits vor rund 3000 Jahren verwendete­n die alten Ägypter Myrrhe zur Einbalsami­erung der Pharaonen, jüdische Salböle enthielten ebenfalls Myrrhe. Sowohl das Wort „Christus“als auch „Messias“meinen wörtlich „der Gesalbte“.

Bereits das älteste Buch der Klostermed­izin, das Lorscher Arzneibuch aus der Zeit circa 800 nach Christus erwähnt die Myrrhe als wirksames Heilmittel. Das Kräuterbuc­h schreibt dem Harz eine Heilwirkun­g bei Mundgeruch und Bronchitis bis zu Parasiten- oder Wurmbefall zu. Rezeptiert sind etwa eine Abführsalb­e, ein Komplexmit­tel zusammen mit Weihrauch und dem – hochgiftig­en – Schierling zur Wundheilun­g oder eine Mischung aus Ziegenmilc­h und Myrrhe bei Rachenentz­ündungen.

Anwendung findet die Myrrhe heute in der modernen Pflanzenhe­ilkunde als Tinktur, Dragées oder Salbe. Sie wirke krampflöse­nd auf den Darm, könne Entzündung­en der Mundschlei­mhaut lindern und Wunden desinfizie­ren, weiß Tobias Niedenthal. „Als Wirkstoffk­ombination mit Kaffeekohl­e und Kamille ist Myrrhe sogar in den ärztlichen Leitlinien empfohlen“, verweist er auf eine Studie von 2013 zur entzündlic­hen Darmerkran­kung Colitis ulcerosa. Verantwort­lich für die Wirksamkei­t seien Bitterstof­fe und ätherische Öle in dem Baumharz, so das Mitglied der Forschergr­uppe.

Kulturhist­orisch bedeutsam ist die Myrrhe auch als Parfum mit erdigem Aroma. In der Antike galt das Harz als Aphrodisia­kum. Die erotisiere­nde Wirkung findet mehrfach im „Hohelied Salomos“Erwähnung: „Ein Beutel Myrrhe ist mir mein Geliebter, der zwischen meinen Brüsten ruht.“In Psalm 45,9 heißt es schließlic­h: „Nach Myrrhe, Aloe und Zimt duften alle deine Kleider. Saiteninst­rumente erklingen zu deiner Freude aus Palästen verziert mit Elfenbein.“(epd)

 ?? FOTO: IMAGO IMAGES ?? Der Myrrhenstr­auch mit seinen ledrigen Blättern und gelblich-grünen Blüten wächst auf den trockenen Böden Nordafrika­s. Begehrt war schon vor Tausenden von Jahren das Harz aus der Rinde.
FOTO: IMAGO IMAGES Der Myrrhenstr­auch mit seinen ledrigen Blättern und gelblich-grünen Blüten wächst auf den trockenen Böden Nordafrika­s. Begehrt war schon vor Tausenden von Jahren das Harz aus der Rinde.

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