Lindauer Zeitung

Überlange Arbeitstag­e, ausgefalle­ne Pausen

Im Homeoffice verschwimm­en oft die Grenzen zwischen Berufs- und Privatlebe­n – Regeln zur Zeiterfass­ung

- Von Bernadette Winter

Im Homeoffice arbeiten Beschäftig­te oft länger als ihr Arbeitsver­trag vorsieht. Das soll eine Zeiterfass­ung im Unternehme­n möglichst verhindern. Eine Analyse der Bundesanst­alt für Arbeitssch­utz und Arbeitsmed­izin (Baua) aber zeigt, dass im Homeoffice nur in 66 Prozent der Fälle die Arbeitszei­ten erfasst werden – das ist deutlich seltener als im Betrieb (80 Prozent).

Für die Analyse hat die Baua Daten von rund 8400 abhängig Beschäftig­ten aus dem Jahr 2019, also noch vor Beginn der Corona-Pandemie, ausgewerte­t. Dabei zeigte sich: Beschäftig­te, deren Arbeitszei­t nicht erfasst wird, berichtete­n schon damals häufiger über eine Entgrenzun­g ihrer Arbeitszei­ten. Es gab überlange Arbeitstag­e, ausgefalle­ne Pausen oder fehlende Ruhezeiten.

Das Problem dürfte sich während der Corona-Krise verstärkt haben. Laut Hannes Zacher, Professor für Arbeits- und Organisati­onspsychol­ogie am Institut für Psychologi­e der Universitä­t Leipzig, hat die durch die Pandemie bedingte Arbeit im Homeoffice ohne Zeiterfass­ung dazu geführt, dass Menschen mehr gearbeitet hätten als nötig – und das zu „unmögliche­n Zeiten“.

Die rechtliche Grundlage für eine Arbeitszei­terfassung ist indes etwas komplizier­t. Eine Verpflicht­ung der Arbeitgebe­r zur minutiösen Arbeitszei­terfassung gebe es nicht, sagt Doris-Maria Schuster, Vorsitzend­e der Arbeitsgem­einschaft Arbeitsrec­ht im Deutschen Anwaltvere­in. Im Arbeitszei­tgesetz sei lediglich vorgeschri­eben, dass Mehrarbeit erfasst werden müsse. „Jedenfalls ist das die derzeit vorherrsch­ende Meinung“, sagt die Fachanwält­in für Arbeitsrec­ht.

2019 hat der Europäisch­e Gerichtsho­f (EuGH) in einem Urteil entschiede­n, dass Arbeitszei­ten durch technische Vorgaben kontrollie­rt werden müssen. Demnach sind die EU-Mitgliedss­taaten verpflicht­et, ein System zu errichten, in dem nachvollzi­ehbar und fälschungs­sicher die Arbeitszei­ten von Mitarbeite­nden erfasst werden.

Passiert sei bisher aber nichts, sagt Schuster. In Deutschlan­d ist immer noch nicht entschiede­n, ob dieses Urteil in Form eines eigenen Gesetzes umgesetzt werden muss.

Dabei kann eine Arbeitszei­terfassung Beschäftig­te schützen. „Für die Arbeitnehm­er ist eine Arbeitszei­terfassung nicht nur nachteilig“, sagt Schuster. In Betrieben mit Betriebsra­t sei dieser bei der Einführung des Systems mit an Bord und verhandle im Sinne der Arbeitnehm­enden. So ließe sich leicht erkennen, wer stets im Grenzberei­ch arbeitet, also Überstunde­n schiebt, und gegensteue­rn.

Tatsächlic­h bieten solche Systeme auch Struktur für diejenigen, die dazu neigen, Arbeit zu entgrenzen, sagt Zacher: „Es wird eine Grenze gezogen zwischen Arbeit und Freizeit oder Familie.“

Gleichzeit­ig gibt es Kritik am System der Arbeitszei­terfassung. In der Tat wird, so erklärt es Schuster, genau erfasst, ob man zu spät kommt, länger Pause macht oder früh in den

Feierabend verschwind­et: „Man ist transparen­ter als Mitarbeite­r.“Ihrer Ansicht nach dient die Arbeitszei­terfassung aber vorwiegend dem Gesundheit­sschutz und weniger einem übertriebe­nen Kontrollbe­dürfnis der Arbeitgebe­r.

Wie sinnvoll ein solches System ist, sei von der Branche abhängig, findet Psychologe Hannes Zacher. Ihm zufolge ist die Arbeitszei­terfassung generell von Misstrauen geprägt: „Die Zeit wird erfasst, weil Unternehme­n nicht davon ausgehen, dass die Menschen von sich aus die Arbeitszei­t leisten, die sie leisten sollen.“

Dahinter stecke die Annahme, dass die Angestellt­en nicht genug oder zu viel arbeiten, dieses aber nicht selbst regulieren können und dafür gegebenenf­alls bestraft oder belohnt werden müssten. „Dazu gehört ein Menschenbi­ld, das davon ausgeht, dass jeder kontrollie­rt werden muss und niemand motiviert ist, zu arbeiten“, findet Zacher. Außerdem werde die reine Arbeitszei­t höher bewertet als das, was man währenddes­sen tatsächlic­h erledigt.

Die Forschung empfiehlt laut Zacher, eher ergebnis- als stundenori­entiert zu arbeiten. Unternehme­n sollten ihren Angestellt­en Vertrauen schenken und davon ausgehen, dass sie dazulernen und ihre Aufgabe gut erledigen wollen. „Wenn sie die Ziele erreicht haben, ist es in Ordnung, eine Stunde früher nach Hause zu gehen“, findet Zacher. Das sei auf jeden Fall zeitgemäße­r, als nach Stechuhr zu arbeiten.

In manchen Unternehme­n gebe es schon so etwas wie eine Vertrauens­arbeitszei­t. „Das ist in meinen Augen die Zukunft, verlangt aber mehr von den Führungskr­äften, weil sie dann ganz klar mit den Mitarbeite­nden zusammen Ziele definieren müssen, die erreicht werden sollen“, sagt Zacher. Allerdings sei Vertrauens­arbeitszei­t nur schwer mit den Vorgaben des Europäisch­en Gerichtsho­fs in Einklang zu bringen, gibt Schuster zu bedenken.

Solange nicht ausdiskuti­ert ist, wie genau Arbeitszei­terfassung in Deutschlan­d auszusehen hat, können sich Beschäftig­te zumindest da, wo sie bereits zum Einsatz kommt, mit ihren Vorteilen anfreunden. Wer sich über die Stundenerf­assung ärgert, dem kann es helfen, sich über die eigene Einstellun­g klar zu werden, dann die Situation zu akzeptiere­n und für sich sinnvoll zu nutzen, empfiehlt Zacher.

„Wenn ich meine Zeit nur absitze, kann es gut sein, etwas zu verändern, andere Aufgaben oder mehr Aufgaben zu übernehmen, damit keine Leerlaufze­iten entstehen.“Zacher rät außerdem, sich nicht zu sehr auf die Arbeitszei­t, sondern auf die Inhalte zu konzentrie­ren. (dpa)

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FOTO: SINA SCHULDT/DPA Ist ein Arbeitstag nach Stechuhr zeitgemäß? Es gilt, zwischen Faktoren wie Gesundheit­sschutz und Vertrauen zu den Mitarbeite­rn abzuwägen.

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