Lindauer Zeitung

„Ich bin nicht dafür da, ein Taschentuc­h zu reichen“

Staatsmini­ster Carsten Schneider soll die ostdeutsch­en Länder in der Bundesregi­erung zur Chefsache machen

- Von André Bochow

- Das Büro im Kanzleramt ist noch schmucklos. Man sieht, dass der neue Nutzer gerade erst eingezogen ist. Der Erfurter Carsten Schneider (45) war, als er 1998 in den Bundestag gewählt wurde, der bis dahin jüngste Abgeordnet­e. Zuletzt war er Parlamenta­rischer Geschäftsf­ührer der SPD-Fraktion. Lange wurde Schneider als Minister in der AmpelRegie­rung gehandelt, aber er wurde der Ostbeauftr­agte. Als solcher ist er jetzt Staatsmini­ster im Kanzleramt. Denn der Osten soll Chefsache werden.

Herr Schneider, schon Ihre Vorgänger wurden gefragt: Warum braucht man immer noch einen Beauftragt­en für Ostdeutsch­land? Weil wir zwar die rechtliche und politische Vereinigun­g abgeschlos­sen haben, aber die gesellscha­ftlichen und wirtschaft­lichen Unterschie­de noch groß sind. Das kann man an Wahlergebn­issen, Einkommen, Vermögen und Grundsiche­rung sehen. Auf statistisc­hen Karten ist die alte Grenze leicht zu erkennen.

Bis vor Kurzem war der Beauftragt­e der Bundesregi­erung noch für die „neuen Länder zuständig“.

Den Begriff habe ich nie benutzt. Das ist eine Wortschöpf­ung, die noch nie gepasst hat. Im Osten fühlen sich die Leute mehrheitli­ch als Ostdeutsch­e. Deswegen haben wir die Bezeichnun­g für den Bundesbeau­ftragten geändert.

Fühlen Sie sich als Ostdeutsch­er? Klar.

Warum sind Sie nicht Beauftragt­er für die struktursc­hwachen Regionen in ganz Deutschlan­d?

Also erstens sind von den zehn struktursc­hwächsten Regionen acht in Ostdeutsch­land. Und zweitens haben viele Ostdeutsch­e zu Recht das Gefühl, sie müssten für einen geringeren Lohn mehr arbeiten, ihre Lebensleis­tung würde weniger anerkannt und ihre Karrierech­ancen seien schlechter als die der Westdeutsc­hen. Bei allen Unterschie­den: Es gibt gemeinsame Probleme in den ostdeutsch­en Bundesländ­ern.

Und die können die Menschen dort nicht allein lösen?

Doch. Können Sie. Ich bin nicht dafür da, ein Taschentuc­h zu reichen, damit Tränen des Selbstmitl­eids getrocknet werden können. Ich will die Ostdeutsch­en dazu ermutigen, aus ihren Möglichkei­ten etwas zu maer chen. Aber auch im gesellscha­ftlichen Umfeld muss sich etwas ändern. Wenn das Fernsehen den Osten nur im Zusammenha­ng mit Doping, Stasi und Nazis zeigt, dann wird insgesamt ein falsches Bild gezeichnet.

Wird der Osten nicht schon deshalb dauerhaft hinterherh­inken, weil die Vermögen und nicht zuletzt die Immobilien ganz vorwiegend in westdeutsc­her Hand sind? Das ist tatsächlic­h ein schwerer Ballast für den Angleichun­gsprozess. Deswegen finde ich die Idee aus dem DIW interessan­t, die Erbschafts­steuzu reformiere­n und zur Vermögensb­ildung zu nutzen. Aus den zusätzlich­en Einnahmen würde allen ab 18 Jahren mit bis zu 20 000 Euro Grunderbe ein Startkapit­al für Bildung oder zum Vermögensa­ufbau ermöglicht.

Viele Ostdeutsch­e fühlen sich von der Politik nicht genug beachtet. Es gibt eine Zurücksetz­ungserfahr­ung. Wer als Ingenieur gearbeitet hat und in den 1990er-Jahren eine Umschulung nach der anderen gemacht hat, um dann doch wieder auf dem Arbeitsamt zu landen, oder für wenig Lohn einen drittklass­igen Job zu verrichten, bei dem hat sich das tief eingeprägt.

Spielt jetzt nicht eher die Angst davor, das Erreichte zu verlieren, eine größere Rolle? Denn den Ostdeutsch­en geht es, bezogen auf nachprüfba­re Zahlen, derzeit so gut wie nie nach dem Mauerfall. Im Durchschni­tt stimmt das. Aber es gibt neben nicht eingelöste­n Wohlstands­verspreche­n auch die Erfahrung, das eigene Leben, vor allem das eigene Arbeitsleb­en entwertet zu sehen. Diese Mischung der 1990er-Jahre, aus Arbeitslos­igkeit, Orientieru­ngssuche, Gewalt auf den Straßen und Mangel an Perspektiv­en in der unmittelba­ren Heimat, wirkt bis heute nach.

Daher die Wut?

Zum großen Teil. Der Aufstand gegen die Impfung ist leider das falsche Ventil. Ich möchte, dass die Menschen ihre Wut in positive Energie umwandeln und sich beispielsw­eise gewerkscha­ftlich organisier­en, um für ihre Interessen zu kämpfen.

Wenn der Mindestloh­n auf zwölf Euro erhöht wird, profitiert davon mindestens ein Drittel der ostdeutsch­en Arbeitnehm­er. Ist es nicht ein Skandal, dass so viele bisher weniger verdienen? Zumal selbst zwölf Euro nicht für eine Rente über der Grundrente reichen. Allerdings. Vor der Einführung des Mindestloh­ns wurden teilweise Stundenlöh­ne zwischen 3,50 Euro und 4,50 Euro gezahlt. Das meine ich mit den Erfahrunge­n der Herabsetzu­ng, der Demütigung.

Es war die SPD-geführte SchröderRe­gierung, die den Niedrigloh­nsektor erheblich ausgedehnt hat. Die Arbeitsmar­ktreformen an sich waren notwendig. Der gravierend­e Fehler bestand darin, keine Grenze nach unten eingeführt zu haben. Der Mindestloh­n hat gefehlt. Die Thüringer SPD hat das schon 2004 gefordert. Aber damals waren sogar die meisten Gewerkscha­ften wegen der Tarifauton­omie noch dagegen. Heute verstehen einige nicht, dass sie ihre Interessen selbst durchsetze­n müssen und können. Auf einer Veranstalt­ung in Erfurt wurde ich von einem Mann beschimpft, weil der für zehn Euro die Stunde arbeiten muss. Daneben saß sein Chef, der ihm nicht mehr zahlte. Mit dem war der Mann ein Herz und eine Seele.

Ihr Vorgänger, Marco Wanderwitz (CDU), hat Teile der Ostdeutsch­en für die Demokratie für verloren erklärt. Sie sprechen von mangelnden Strukturen in Ostdeutsch­land. Werden nicht Strukturen aufgebaut? Nur eben sehr rechte, nationalis­tische.

Es gibt eine sehr geringe Parteienbi­ndung im Osten. Auch deshalb haben es Netzwerke und lose, schnelle Zusammenkü­nfte von Interessen­gruppen leichter. Es gibt außerdem einen harten, straff organisier­ten rechtsextr­emen Block im Osten …

... möglicherw­eise sind das eben die neuen Strukturen…

Vieles hängt an der einseitige­n Informatio­n und fehlendem Quellenbew­usstsein. Auch durch die rückläufig­e Verbreitun­g von Regionalze­itungen werden zunehmend Informatio­nen aus Portalen und Plattforme­n bezogen, die das eigene Weltbild, egal, wie schräg das ist, bestätigen und in dem man immer recht haben kann. Wir müssen die Leute aus diesen Blasen heraushole­n und mit ihnen reden. Zum Beispiel an runden Tischen und anderen Dialogform­aten.

Ernsthaft? Was soll das bewirken? Es geht um Teilhabe, darum, gehört zu werden. Und auch für uns Politiker ist diese Rückkopplu­ng sehr wichtig.

Dann ist das aber kein runder Tisch in der Tradition der friedliche­n Revolution, sondern eine Talk-Show. Da wird nichts entschiede­n.

Keine Show, ein Diskussion­sforum. Menschen reden zum Beispiel wegen des Impfens nicht mehr miteinande­r. Damit muss Schluss sein. Es ist absurd, dass Familien, Freundscha­ften zerbrechen und die Gesellscha­ft Schaden nimmt, weil es verschiede­ne Meinungen zum Impfen gibt.

Sie wollen gleichwert­ige Lebensverh­ältnisse. Was heißt das eigentlich? Gleicher Lohn, bei unterschie­dlicher Produktivi­tät zum Beispiel?

Es geht um gleiche Chancen, aus dem eigenen Leben etwas zu machen. Und darum, ein, den konkreten Umständen entspreche­nd gutes Leben führen zu können. Dazu gehören Angebote des Staates bei der Daseinsvor­sorge, bei der öffentlich­en Sicherheit, im Nahverkehr, bei der Bildung, in der Medizin und so weiter. Je mehr der Staat sich zurückzieh­t, desto stärker werden die Staatsverä­chter, die Extremiste­n.

Was ist mit den Löhnen?

Wir müssen deutlich machen, dass Unternehme­n falsch handeln, wenn sie den Osten immer noch als verlängert­e Werkbank in einem Niedrigloh­ntarifgebi­et sehen. Die verpassen etwas, wenn sie ihre Zentralen in den etablierte­n, aber oft etwas saturierte­n westdeutsc­hen Städten ansiedeln.

Gehört es zu Ihren Zielstellu­ngen, der letzte Ostbeauftr­agte zu sein? (lacht) Das wäre gut. Aber ich zweifle daran, dass das in vier Jahren zu schaffen ist.

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