„Ich bin nicht dafür da, ein Taschentuch zu reichen“
Staatsminister Carsten Schneider soll die ostdeutschen Länder in der Bundesregierung zur Chefsache machen
- Das Büro im Kanzleramt ist noch schmucklos. Man sieht, dass der neue Nutzer gerade erst eingezogen ist. Der Erfurter Carsten Schneider (45) war, als er 1998 in den Bundestag gewählt wurde, der bis dahin jüngste Abgeordnete. Zuletzt war er Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion. Lange wurde Schneider als Minister in der AmpelRegierung gehandelt, aber er wurde der Ostbeauftragte. Als solcher ist er jetzt Staatsminister im Kanzleramt. Denn der Osten soll Chefsache werden.
Herr Schneider, schon Ihre Vorgänger wurden gefragt: Warum braucht man immer noch einen Beauftragten für Ostdeutschland? Weil wir zwar die rechtliche und politische Vereinigung abgeschlossen haben, aber die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Unterschiede noch groß sind. Das kann man an Wahlergebnissen, Einkommen, Vermögen und Grundsicherung sehen. Auf statistischen Karten ist die alte Grenze leicht zu erkennen.
Bis vor Kurzem war der Beauftragte der Bundesregierung noch für die „neuen Länder zuständig“.
Den Begriff habe ich nie benutzt. Das ist eine Wortschöpfung, die noch nie gepasst hat. Im Osten fühlen sich die Leute mehrheitlich als Ostdeutsche. Deswegen haben wir die Bezeichnung für den Bundesbeauftragten geändert.
Fühlen Sie sich als Ostdeutscher? Klar.
Warum sind Sie nicht Beauftragter für die strukturschwachen Regionen in ganz Deutschland?
Also erstens sind von den zehn strukturschwächsten Regionen acht in Ostdeutschland. Und zweitens haben viele Ostdeutsche zu Recht das Gefühl, sie müssten für einen geringeren Lohn mehr arbeiten, ihre Lebensleistung würde weniger anerkannt und ihre Karrierechancen seien schlechter als die der Westdeutschen. Bei allen Unterschieden: Es gibt gemeinsame Probleme in den ostdeutschen Bundesländern.
Und die können die Menschen dort nicht allein lösen?
Doch. Können Sie. Ich bin nicht dafür da, ein Taschentuch zu reichen, damit Tränen des Selbstmitleids getrocknet werden können. Ich will die Ostdeutschen dazu ermutigen, aus ihren Möglichkeiten etwas zu maer chen. Aber auch im gesellschaftlichen Umfeld muss sich etwas ändern. Wenn das Fernsehen den Osten nur im Zusammenhang mit Doping, Stasi und Nazis zeigt, dann wird insgesamt ein falsches Bild gezeichnet.
Wird der Osten nicht schon deshalb dauerhaft hinterherhinken, weil die Vermögen und nicht zuletzt die Immobilien ganz vorwiegend in westdeutscher Hand sind? Das ist tatsächlich ein schwerer Ballast für den Angleichungsprozess. Deswegen finde ich die Idee aus dem DIW interessant, die Erbschaftssteuzu reformieren und zur Vermögensbildung zu nutzen. Aus den zusätzlichen Einnahmen würde allen ab 18 Jahren mit bis zu 20 000 Euro Grunderbe ein Startkapital für Bildung oder zum Vermögensaufbau ermöglicht.
Viele Ostdeutsche fühlen sich von der Politik nicht genug beachtet. Es gibt eine Zurücksetzungserfahrung. Wer als Ingenieur gearbeitet hat und in den 1990er-Jahren eine Umschulung nach der anderen gemacht hat, um dann doch wieder auf dem Arbeitsamt zu landen, oder für wenig Lohn einen drittklassigen Job zu verrichten, bei dem hat sich das tief eingeprägt.
Spielt jetzt nicht eher die Angst davor, das Erreichte zu verlieren, eine größere Rolle? Denn den Ostdeutschen geht es, bezogen auf nachprüfbare Zahlen, derzeit so gut wie nie nach dem Mauerfall. Im Durchschnitt stimmt das. Aber es gibt neben nicht eingelösten Wohlstandsversprechen auch die Erfahrung, das eigene Leben, vor allem das eigene Arbeitsleben entwertet zu sehen. Diese Mischung der 1990er-Jahre, aus Arbeitslosigkeit, Orientierungssuche, Gewalt auf den Straßen und Mangel an Perspektiven in der unmittelbaren Heimat, wirkt bis heute nach.
Daher die Wut?
Zum großen Teil. Der Aufstand gegen die Impfung ist leider das falsche Ventil. Ich möchte, dass die Menschen ihre Wut in positive Energie umwandeln und sich beispielsweise gewerkschaftlich organisieren, um für ihre Interessen zu kämpfen.
Wenn der Mindestlohn auf zwölf Euro erhöht wird, profitiert davon mindestens ein Drittel der ostdeutschen Arbeitnehmer. Ist es nicht ein Skandal, dass so viele bisher weniger verdienen? Zumal selbst zwölf Euro nicht für eine Rente über der Grundrente reichen. Allerdings. Vor der Einführung des Mindestlohns wurden teilweise Stundenlöhne zwischen 3,50 Euro und 4,50 Euro gezahlt. Das meine ich mit den Erfahrungen der Herabsetzung, der Demütigung.
Es war die SPD-geführte SchröderRegierung, die den Niedriglohnsektor erheblich ausgedehnt hat. Die Arbeitsmarktreformen an sich waren notwendig. Der gravierende Fehler bestand darin, keine Grenze nach unten eingeführt zu haben. Der Mindestlohn hat gefehlt. Die Thüringer SPD hat das schon 2004 gefordert. Aber damals waren sogar die meisten Gewerkschaften wegen der Tarifautonomie noch dagegen. Heute verstehen einige nicht, dass sie ihre Interessen selbst durchsetzen müssen und können. Auf einer Veranstaltung in Erfurt wurde ich von einem Mann beschimpft, weil der für zehn Euro die Stunde arbeiten muss. Daneben saß sein Chef, der ihm nicht mehr zahlte. Mit dem war der Mann ein Herz und eine Seele.
Ihr Vorgänger, Marco Wanderwitz (CDU), hat Teile der Ostdeutschen für die Demokratie für verloren erklärt. Sie sprechen von mangelnden Strukturen in Ostdeutschland. Werden nicht Strukturen aufgebaut? Nur eben sehr rechte, nationalistische.
Es gibt eine sehr geringe Parteienbindung im Osten. Auch deshalb haben es Netzwerke und lose, schnelle Zusammenkünfte von Interessengruppen leichter. Es gibt außerdem einen harten, straff organisierten rechtsextremen Block im Osten …
... möglicherweise sind das eben die neuen Strukturen…
Vieles hängt an der einseitigen Information und fehlendem Quellenbewusstsein. Auch durch die rückläufige Verbreitung von Regionalzeitungen werden zunehmend Informationen aus Portalen und Plattformen bezogen, die das eigene Weltbild, egal, wie schräg das ist, bestätigen und in dem man immer recht haben kann. Wir müssen die Leute aus diesen Blasen herausholen und mit ihnen reden. Zum Beispiel an runden Tischen und anderen Dialogformaten.
Ernsthaft? Was soll das bewirken? Es geht um Teilhabe, darum, gehört zu werden. Und auch für uns Politiker ist diese Rückkopplung sehr wichtig.
Dann ist das aber kein runder Tisch in der Tradition der friedlichen Revolution, sondern eine Talk-Show. Da wird nichts entschieden.
Keine Show, ein Diskussionsforum. Menschen reden zum Beispiel wegen des Impfens nicht mehr miteinander. Damit muss Schluss sein. Es ist absurd, dass Familien, Freundschaften zerbrechen und die Gesellschaft Schaden nimmt, weil es verschiedene Meinungen zum Impfen gibt.
Sie wollen gleichwertige Lebensverhältnisse. Was heißt das eigentlich? Gleicher Lohn, bei unterschiedlicher Produktivität zum Beispiel?
Es geht um gleiche Chancen, aus dem eigenen Leben etwas zu machen. Und darum, ein, den konkreten Umständen entsprechend gutes Leben führen zu können. Dazu gehören Angebote des Staates bei der Daseinsvorsorge, bei der öffentlichen Sicherheit, im Nahverkehr, bei der Bildung, in der Medizin und so weiter. Je mehr der Staat sich zurückzieht, desto stärker werden die Staatsverächter, die Extremisten.
Was ist mit den Löhnen?
Wir müssen deutlich machen, dass Unternehmen falsch handeln, wenn sie den Osten immer noch als verlängerte Werkbank in einem Niedriglohntarifgebiet sehen. Die verpassen etwas, wenn sie ihre Zentralen in den etablierten, aber oft etwas saturierten westdeutschen Städten ansiedeln.
Gehört es zu Ihren Zielstellungen, der letzte Ostbeauftragte zu sein? (lacht) Das wäre gut. Aber ich zweifle daran, dass das in vier Jahren zu schaffen ist.