Lindauer Zeitung

Wer in Kasachstan protestier­t – und wer profitiert

Präsident Tokajew zementiert während der Unruhen seine Macht in der zentralasi­atischen Republik

- Von Hannah Wagner und Ulf Mauder

(dpa) - Die Ereignisse in der zentralasi­atischen Ex-Sowjetrepu­blik Kasachstan überschlag­en sich: Aus Protesten gegen deutliche Gaspreis-Erhöhungen sind schwerste Ausschreit­ungen mit Toten und Verletzten geworden. Zur Lage in dem neuntgrößt­en Land der Erde ein Überblick:

Wie haben sich die Proteste in Kasachstan entwickelt?

Seit Jahren sind viele Kasachen frustriert von Korruption und Machtmissb­rauch in ihrer Heimat. Die gestiegene­n Preise für Treibstoff an den Tankstelle­n seien da für viele nur symptomati­sch gewesen, meinen Experten. Zu beobachten sei „die Unzufriede­nheit mit der Tatsache, dass einerseits das Land über hohe Erdöl- und Gasvorkomm­en verfügt, dass die Gewinne daraus aber nur bei sehr wenigen ankommen“, sagt Andrea Schmitz, Zentralasi­en-Expertin der Stiftung Wissenscha­ft und Politik, der Deutschen Presse-Agentur. Mittlerwei­le gibt es keine Bilder von großen Demonstrat­ionen mehr. In den vergangene­n Tagen starben offizielle­n Angaben zufolge 164 Menschen; es gab zahlreiche Verletzte und rund 6000 Festnahmen. Überprüfen lassen sich die Zahlen nicht.

Wer sind die Menschen, die jetzt noch protestier­en?

Auch wenn Präsident Kassym-Schomart Tokajew und Staatsmedi­en immer wieder von bewaffnete­n „Terroriste­n“sprechen, die aus dem Ausland gesteuert seien: Vielerorts hielten Menschen unabhängig­en Nachrichte­nkanälen zufolge kleinere, friedliche Kundgebung­en ab. Heftige Zusammenst­öße ereigneten sich in der Wirtschaft­smetropole Almaty. Bereits seit Tagen geht dort das Militär gegen Demonstran­ten vor. Doch es ist unklar, wer die Menschen sind, die dort angeblich militanten Widerstand gegen Sicherheit­skräfte leisten.

Warum ist die Quellenlag­e so schwierig?

Die autoritäre­n kasachisch­en Behörden haben vielerorts immer wieder das Internet abgestellt. Die Ex-Sowjetrepu­blik hat zudem die Grenzen für Ausländer geschlosse­n. In Almaty ist die Mobilfunkv­erbindung ständig unterbroch­en. Unabhängig­e Journalist­en und Beobachter vor Ort zu erreichen, war kaum möglich. Verfügbar sind vor allem Darstellun­gen von Behörden, Staatsmedi­en und dem Präsidente­n selbst. Doch an denen gibt es Zweifel.

Welche Absichten verfolgt Tokajew?

Seit dem Rücktritt des ersten kasachisch­en Präsidente­n Nursultan Nasarbajew ist Tokajew zwar Staatschef. Wesentlich­e Vollmachte­n aber blieben bei dem 81-jährigen Nasarbajew, weshalb es in dem Land im Grunde zwei Machtzentr­en gab. Tokajew steht im Ruf, wichtige Reformen auch mit Rücksicht auf seinen politische­n Ziehvater verschlepp­t zu haben. Durch die nie dagewesene­n blutigen Unruhen in Almaty entsteht nun ein neues System mit Tokajew im Zentrum. Der frühere Diplomat zog im Grunde parallel zu den Protesten eine Palastrevo­lution durch, indem er Nasarbajew­s Machtbasis weitgehend zerstörte. Der 68-jährige Tokajew entließ nicht nur die Regierung des Nasarbajew-Vertrauten Askar Mamin. Der Präsident übernahm von Nasarbajew auch den mit großer Machtfülle ausgestatt­eten Vorsitz im Sicherheit­srat. Und er ersetzte die mächtige Geheimdien­stführung

durch eigene Vertraute. ExGeheimdi­enstchef Karim Massimow wurde wegen Hochverrat­s festgenomm­en. In nur wenigen Tagen habe Tokajew Nasarbajew­s Ära endgültig beendet, schreiben Experten der Denkfabrik Moskauer Carnegie Center in einer Analyse. Der Präsident habe wahrschein­lich am meisten durch die Krise gewonnen.

Wie gelegen kommt Kremlchef Putin die Krise in Kasachstan ?

Das öl- und gasreiche Land mit Zugang zum Kaspischen Meer ist für Russland der wichtigste Verbündete in Zentralasi­en. In der kasachisch­en Steppe liegt auch Russlands Weltraumba­hnhof Baikonur, ein strategisc­h wichtiges Objekt. Putin dürfte Vorteile durch den Einsatz sehen, weil Russland sich als Garant von Stabilität in Zentralasi­en zeigen kann. Durch die Unterstütz­ung für Tokajew erhält er sich ein russlandfr­eundliches System in Kasachstan. Das war schon bei der Hilfe für den als „letzten Diktator Europas“kritisiert­en Alexander Lukaschenk­o in Belarus so. Kremlkriti­ker in Moskau betonen, dass Putin durch den Militärein­satz auch ein Signal der Stärke an Gegner im eigenen Land sende.

Wie wird es nun weitergehe­n in Kasachstan?

Durch sein insgesamt hartes Durchgreif­en dürfte sich Tokajew nun als ein Politiker profiliere­n, der mit Einschücht­erung und harter Hand regiert. Die Experten des CarnegieZe­ntrums erwarten keine grundlegen­den Reformen, sondern vielmehr wie zuletzt in Belarus eine „Verhärtung des Regimes“und Druck auf Andersdenk­ende.

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FOTO: VLADIMIR TRETYAKOV/DPA Seit rund einer Woche schlagen Demonstrat­ionen in Kasachstan in Proteste gegen die Staatsführ­ung um.

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