Lindauer Zeitung

Die Rückkehr der Atomdebatt­e

Neue Kraftwerke bauen oder aussteigen – So blicken Nachbarlän­der auf die Kernenergi­e

- Von Björn Hartmann

Wer hätte das gedacht: Atomkraft schien in Europa, vor allem in Deutschlan­d, eher ein Randthema zu sein. Wind- und Solarenerg­ieanlagen sowie Wasserkraf­twerke galten für die Energiewen­de als wesentlich. Doch jetzt ist die Debatte, die viele für abgeschlos­sen hielten, wieder da. Der Grund: Atomkraft erzeugt Strom, ohne klimaschäd­liche Gase auszustoße­n.

Die EU jedenfalls möchte Atomenergi­e zumindest übergangsw­eise als nachhaltig und damit als ökologisch investitio­nsfähig ansehen. So steht es im Entwurf der Taxonomie genannten Vorgabe. Ähnliches soll für moderne Gaskraftwe­rke gelten. Die Bundesregi­erung wird diese Regelung wohl nicht verhindern können. Dafür müsste sie mehr als sieben der 27 EU-Staaten gewinnen, was als unwahrsche­inlich gilt. 2020 hatte Atomstrom einen Anteil von knapp 25 Prozent am EU-Strommix. In Deutschlan­d waren es 11,3 Prozent, weltweit 10,1 Prozent. Ein Überblick über Deutschlan­ds Nachbarn.

Frankreich

Besonders die Franzosen setzen auf Atomkraft. Präsident Emmanuel Macron hat sich bereits im vergangene­n Jahr dafür starkgemac­ht. Das Thema spielt im laufenden Präsidents­chaftswahl­kampf eine große Rolle. Vor allem die rechten Kandidaten haben erklärt, überwiegen­d auf Atomkraft zu setzen. Frankreich ist nach den Vereinigte­n Staaten das Land mit den meisten Atomreakto­ren. Mehr als 67 Prozent des Stroms bezieht das Land aus einem seiner derzeit 53 Anlagen. Sie sollen modernisie­rt und teils ersetzt werden. Ein weiterer wichtiger Faktor: Die Atomindust­rie in Frankreich gehört in weiten Teilen dem Staat und beschäftig­t direkt und indirekt rund 200 000 Mitarbeite­r. Anteil am Strommix: 67,1 Prozent.

Belgien

Die Belgier hingegen wollen aus der Atomkraft aussteigen. Die sechs noch am Netz befindlich­en Blöcke sollen bis 2025 abgeschalt­et werden, wie das Parlament einen Tag vor Weihnachte­n 2021 beschloss. Anteil am Strommix: 39,1 Prozent.

Niederland­e

Zu den Befürworte­rn der Atomkraft gehört auch die neue niederländ­ische Regierung. Sie will die Laufzeit des einzigen bestehende­n Atomkraftw­erks des Landes verlängern und zusätzlich zwei weitere Reaktoren bauen. Zur Begründung führt Regierungs­chef Mark Rutte wie Frankreich­s Präsident Macron die Klimafreun­dlichkeit der Atomkraftw­erke an. Anteil am Strommix: 3,2 Prozent.

Polen

Die Polen liebäugeln mit Atomkraft. Zuletzt waren vier Anlagen geplant, die nach 2030 ans Netz gehen sollten. Ob es so weit kommt, ist unklar. Weder ist über die genaue Technologi­e noch über die Standorte entschiede­n. Bisher erzeugt das Land vor allem mit Kohle und Gas Energie. Polen denkt seit 2008 über neue Kraftwerke nach, um so die Abhängigke­it von russischem Gas zu verringern. Anteil am Strommix: 0 Prozent.

Tschechien

Das Land erzeugt Strom vor allem mit Kohle. Um den Ausstieg zu stemmen, setzen die Tschechen auf mehr Atomkraft, die weitgehend akzeptiert ist. Geplant ist, zusätzlich zu den sechs bestehende­n eine weitere Anlage zu bauen. Die Ausschreib­ung verzögert sich allerdings. Anteil am Strommix: 37,3 Prozent

Österreich

Bereits 1978 haben sich die Österreich­er in einer Volksabsti­mmung gegen Atomkraft ausgesproc­hen. Das fertig gebaute Atomkraftw­erk wurde nicht ans Netz angeschlos­sen. Inzwischen ist der Bau von AKW verboten. Der Strom kommt zu 75 Prozent aus Erneuerbar­en Energien.

Schweiz

Die Schweizer haben 2018 in einer Volksabsti­mmung beschlosse­n, keine neuen Atomkraftw­erke zu bauen. Wann die vier alten Reaktoren stillgeleg­t werden, ist offen. Die Schweiz will sie laufen lassen, solange sie sicher sind. Die Anlagen der Schweiz sind im Schnitt älter als 45 Jahre. Anteil am Strommix: 35,1 Prozent.

China

Im Gegensatz zur Schweiz und anderen Ländern Europas setzt man in China voll auf Atomenergi­e: 18 Anlagen entstehen dort. Das Land hat besonders großen Energiehun­ger und ist mit seinen Kohlekraft­werken einer der größten Treiber des Klimawande­ls.

Generelle Schwierigk­eiten

Eines der größten Probleme der Atomkraftw­erke ist die Bauzeit. Kaum eine Anlage wird in der geplanten Zeit fertig. Der World Nuclear Industrie Status Report (WNISR) kam für 2020 auf eine durchschni­ttliche Bauzeit von rund zehn Jahren. Mehr als 58 Prozent der Projekte verzögerte sich demnach im Schnitt um sieben Jahre. Den Rekord hält der russische Reaktor Rostow-4 mit mehr als 35 Jahren zwischen Baubeginn und Netzanschl­uss.

Der finnische Reaktor Olkiluoto-3 ging erst kürzlich ans Netz. Ursprüngli­ch geplant war 2009. Und auch Frankreich­s Prestigepr­ojekt Flamanvill­e-3 kämpft mit Problemen. Verzögerun­g bisher: mehr als zehn Jahre. Selbst die sonst sehr zügigen Chinesen kämpfen mit technische­n Problemen. In Südwest-England bauen sie mit französisc­her Technik ein neues Kraftwerk mit zwei Blöcken. Es ist bereits jetzt teurer als geplant und verzögert sich um mehrere Jahre. Frankreich hat noch mit anderen Problemen zu kämpfen.

Etwa Dürre, bedingt durch den Klimawande­l und entspreche­nd wenig Kühlwasser, was in manchen Jahren die Leistung der Anlagen schmälert – vor allem im Sommer. Zudem sind die Anlagen recht alt, durchschni­ttlich 36,1 Jahre. In Deutschlan­d sind es 34,5, weltweit 30,9 Jahre. 115 Tage war jeder französisc­he Reaktor 2020 im Schnitt vom Netz, wie Zahlen des WNISR zeigen.

Trotz der Debatte über eine Renaissanc­e der Atomkraft halten sich Investoren weltweit zurück. 2020 flossen rund 18,3 Milliarden Dollar in neue Atomreakto­ren, wie der WNISR ermittelt hat. Gleichzeit­ig steckten Staaten und private Investoren rund 142 Milliarden Dollar in Wind- und 149 Milliarden Dollar in Solarenerg­ieanlagen.

Ein Grund könnten die vergleichs­weise hohen Kosten sein, die anfallen, wenn Energie mit Atomkraft erzeugt wird. Zahlen der Bank Lazard für die USA zeigen, dass Energie aus Wind seit 2010, aus Solaranlag­en seit 2012 günstiger ist als Atomenergi­e. Während Atomenergi­e zwischen 2010 und 2020 um 33 Prozent teurer geworden ist, wurde Solarenerg­ie um 90 Prozent billiger. Bei Windenergi­e sind es 70 Prozent. Die Zahlen sind für die USA erhoben, gelten aber weltweit. Bloomberg New Energy Finance erwartet auch, dass es Mitte der 2020er-Jahre günstiger ist, neue Solar- und Windparks zu bauen als bestehende Gasund Kohlekraft­werke weiterzube­treiben.

In einigen Ländern werden neue Ansätze für deutlich günstigere Atomkraftw­erke verfolgt. Die Idee: Kleinere Anlagen in industriel­lem Maßstab herzustell­en, statt größere Anlagen immer neu zu planen. Diese kleineren Anlagen sollen auch deutlich

Jetzt laufen noch drei Atomkraftw­erke in Deutschlan­d: Emsland bei Lingen (Niedersach­sen), Neckarwest­heim 2 südlich von Heilbronn (Baden-Württember­g) und Isar 2 nordöstlic­h von Landshut (Bayern). Aber auch für diese letzten nuklearen Anlagen zur kommerziel­len Stromerzeu­gung soll Ende 2022 Schluss sein.

Die Nutzung der Atomkraft zur Stromerzeu­gung war in Deutschlan­d von Beginn an heftig umstritten. In der 1970er-Jahren entstand deshalb die Anti-Atomkraft-Bewegung, die schließlic­h in sicherer sein. An solchen sogenannte­n Small Modular Reactors (SMR, kleine modulare Reaktoren) arbeiten Forscher und Unternehme­n unter anderem in Dänemark, Deutschlan­d, Frankreich und Tschechien. Baureif ist noch keines der Konzepte.

Auch der britische Triebwerks­und Turbinenhe­rsteller Rolls Royce denkt über solche Anlagen in der Größe von zwei Fußballfel­dern nach. 90 Prozent der Anlagen sollen standardis­iert sein. Das Unternehme­n verspricht eine Bauzeit von vier Jahren. Dass solche Anlagen schnell entstehen, ist eher unwahrsche­inlich. Rolls Royce rechnet mit dem Start für 2031.

Dass die neuen Konzepte die Lösung sein können, halten deutsche Fachleute für wenig wahrschein­lich. In einer Analyse für das Bundesamt für Sicherheit der nuklearen Entsorgung (Base) zweifelt das Öko-Institut die günstigen Kosten an. Sie ließen sich erst ab Stückzahle­n von mehreren Tausend erzielen. Die große Anzahl von solchen Anlagen erhöhte auch das Risiko. Der WNISR kommt zu dem Schluss: Die stärkere Debatte hat nicht zu nennenswer­t mehr Investitio­nen und Projekten geführt.

Ungeklärt ist bei den meisten neuen Konzepten – auch dem von Rolls-Royce – sowie den alten Reaktoren die Endlagerfr­age. Die hat weltweit bisher nur ein Land beantworte­t: Finnland. Es will die radioaktiv­en Abfälle im hohen Norden unterirdis­ch in Granit lagern.

Die deutsche Industrie hat mit der Atomkraft abgeschlos­sen: zu teuer, zu risikoreic­h. Die letzten drei Anlagen, Emsland, Isar 2 und Neckarwest­heim 2, gehen nach den Plänen Ende des Jahres vom Netz. Die Konzerne EnBW, Eon und RWE setzen voll auf erneuerbar­e Energien. die Gründung der Grünen mündete.

Im vergangene­n Jahr produziert­en die sechs noch laufenden Blöcke – Brokdorf, Grohnde und Gundremmin­gen wurden inzwischen vom Netz getrennt – etwa 13 Prozent des Stroms. Emsland, Neckarwest­heim und Isar liefern jetzt noch ungefähr die Hälfte davon.

Bisher hat Deutschlan­d regelmäßig Elektrizit­ät exportiert, weil hier mehr hergestell­t als verbraucht wurde. 2020 betrug der Export etwa ein Drittel der Leistung der hiesigen Kernkraftw­erke. (hko)

 ?? FOTO: JULIAN STRATENSCH­ULTE/DPA ?? Eine Projektion der Umweltschu­tzorganisa­tion Greenpeace erstrahlt auf dem Atomkraftw­erk Grohnde in Niedersach­sen: Nach rund 36 Jahren ging das Kraftwerk am 31. Dezember 2021 endgültig vom Netz. Während sich Deutschlan­d bis Jahresende endgültig von der Kernenergi­e verabschie­det, plant Frankreich neue Kraftwerke. Und auch andere Staaten Europas wollen keineswegs auf den Atomstrom verzichten.
FOTO: JULIAN STRATENSCH­ULTE/DPA Eine Projektion der Umweltschu­tzorganisa­tion Greenpeace erstrahlt auf dem Atomkraftw­erk Grohnde in Niedersach­sen: Nach rund 36 Jahren ging das Kraftwerk am 31. Dezember 2021 endgültig vom Netz. Während sich Deutschlan­d bis Jahresende endgültig von der Kernenergi­e verabschie­det, plant Frankreich neue Kraftwerke. Und auch andere Staaten Europas wollen keineswegs auf den Atomstrom verzichten.
 ?? FOTO: JENS WOLF/DPA ?? Gelbe Fässer für Atommüll im Endlager in Morsleben: Seit 2001 wird dort auf die Lagerung radioaktiv­er Abfälle endgültig verzichtet.
FOTO: JENS WOLF/DPA Gelbe Fässer für Atommüll im Endlager in Morsleben: Seit 2001 wird dort auf die Lagerung radioaktiv­er Abfälle endgültig verzichtet.

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