Eine ganz und gar unnormale Familie
Colm Tóibín erzählt in Romanform das Leben von Thomas Mann und den Seinen
Neuland hat Colm Tóibín mit seinem Buch „Der Zauberer“(so nannten Thomas Manns Kinder ihren Vater) nicht betreten. An Biografien des großen Schriftstellers mangelt es wahrlich nicht, auch nicht an autobiografischen Bezügen in Manns literarischem Werk. Eine der Thomas-Mann-Biografien, verfasst von Peter de Mendelssohn, ist 1975 ebenfalls unter dem Titel „Der Zauberer“erschienen. Allerdings möchte das 550-Seiten-Epos des irischen Autors auch keine Biografie im klassischen Sinne sein, sondern versteht sich als eine Lebensbeschreibung in Romanform. Dessen muss sich der Leser immer bewusst sein, insbesondere bei den zahlreichen Dialogen. Zwar könnten viele von diesen so oder so ähnlich stattgefunden haben, aber natürlich sind sie allesamt frei erfunden.
Trotzdem liegt diesem Buch, das das Leben des Literaturnobelpreisträgers von seiner Kindheit in Lübeck über die Münchner Jahre und das Exil in Amerika bis zu seiner Rückkehr nach Europa umfasst, eine gründliche Recherchearbeit zugrunde. Dies belegt auch die lange Liste der Quellenangaben. Tóibíns Recherchen beziehen sich aber nicht nur auf den Dichter selbst, sondern insbesondere auch auf dessen ganz und gar unnormale Familie. Genie und Tragik lagen hier sehr nahe beieinander. Die Kinder von Thomas und seiner Frau Katia waren hochbegabt, aber, vor allem Erika und Klaus, auch äußerst exzentrisch und kamen mit ihrem Leben oft nicht zurecht. Auch Drogen spielten eine Rolle. Klaus und Michael, der Jüngste der Geschwister, starben sogar durch eigene Hand, ebenso wie Thomas Manns Schwestern Julia (genannt Lula) und Carla und auch Nelly, die Ehefrau von Bruder Heinrich.
Wer sich für die turbulente Familiengeschichte der Manns interessiert und noch wenig darüber weiß, wird sich mit Colm Tóibíns Buch gut bedient fühlen. Die literarische Würdigung des Jahrhundertschriftstellers kommt jedoch zu kurz. Dafür befasst sich der Autor sehr ausführlich und teilweise auch in peinlichen und bloßstellenden Details mit Thomas Manns Homosexualität und deren Einfluss auf seine Werke. Wie ein roter Faden zieht sich dieses Thema durch das ganze Buch. Das hätte gewiss nicht sein müssen. Und wenn Tóibín die Novelle „Der Tod von Venedig“, in der die homoerotischen Neigungen Manns vielleicht am deutlichsten durchschimmern, fast zu einem Hauptwerk des Autors hochstilisiert, dessen monumentalen Roman „Joseph und seine Brüder“aber nur beiläufig erwähnt, so wird diese Gewichtung der literarischen Bedeutung Thomas Manns in keiner Weise gerecht.
Gut herausgearbeitet hat Colm Tóibín Thomas Manns Wandel im amerikanischen Exil vom Zauderer zum engagierten Homo Politicus. Als gefragter Redner tourte er durch viele Städte der USA, seine Texte für die BBC-Radiosendung „Deutsche Hörer!“während des Zweiten Weltkriegs wurden zu historischen Dokumenten von Rang. Auch nach dem Kriegsende setzte Thomas Mann wichtige Zeichen. Seine Besuche 1949 in Frankfurt, wo er mit dem Goethepreis ausgezeichnet wurde, und in Weimar in der damaligen sowjetischen Besatzungszone, sollten ausdrücklich als Besuche in Deutschland als Ganzem verstanden werden. Schließlich, so soll er sich in einer Pressekonferenz geäußert haben, sei auch die Sprache Goethes nicht in Zonen aufgeteilt.
„Der Zauberer“kann Kennern des Lebens und Werks Thomas Manns nicht sehr viel Neues vermitteln. Als Einstieg in eine Beschäftigung mit dem berühmten Romancier ist das Buch aber doch lesenswert. Möglicherweise wäre das sogar noch mehr der Fall, wenn sich Colm Tóibín etwas kürzer gefasst hätte. 100 Seiten weniger hätten wohl auch ausgereicht, um die Geschichte zu erzählen.
Colm Tóibín: Der Zauberer. Carl Hanser Verlag (München). 557 Seiten. 28 Euro.