Lindauer Zeitung

Wenn abweichend­e Erinnerung­en zu Streit führen

Frustratio­nstoleranz hilft - auch in Zeiten von Corona

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(dogs) - Seine Klienten sind Menschen wie Du und Ich. Einige brauchen ihn als Psychiater, manche als Psychother­apeuten und wieder andere als Coach. Dr. Christian Peter Dogs lädt die Leser der Lindauer Zeitung dazu ein, ihm bei der Arbeit über die Schulter zu schauen und verspricht: „Bei vielen Fällen werden Sie manches von sich selbst wiedererke­nnen.“Dieses Mal geht es um das Tückische an Erinnerung­en. Denn viele Familienst­reitereien beginnen mit dem harmlosen Satz: „Weißt Du noch?“

Die Weihnachts­zeit und der Jahreswech­sel war für viele ein Treffen mit der Familie und alten Freunden und damit auch ein Aufeinande­rtreffen von vielen, ganz vielen Erinnerung­en. Die Medien haben sich ebenfalls überschlag­en mit Rückblicke­n. Das war einfacher, weil sie sich nur auf ein Jahr beziehen.

Auffallend war: Die Medien haben sich fast nur auf die Katastroph­en von 2021 konzentrie­rt. Als ob das Wiederhole­n negativer Ereignisse uns positiver für die Zukunft stimmen würde? Dabei hätten wir es so nötig gehabt, die guten Erlebnisse des vergangene­n Jahres noch einmal zu rekapituli­eren, um uns durch Hoffnung für dieses Jahr zu stabilisie­ren. Das Verdrängen der Katastroph­en von gestern dient durchaus dazu, mir die Kraft für das Morgen zu geben.

Das defizitäre Fokussiere­n ähnelt den Ansätzen der Psychoanal­yse, die heute noch überzeugt ist, dass das Aufdecken negativer, verdrängte­r Kindheitsk­onflikte hilfreich ist, um die Gegenwart zu bewältigen. Und all das lebt von den Erinnerung­en, die doch immer nur emotional eingefärbt­e Fragmente unseres Lebens abbilden. Als hätten wir noch nie etwas von den Pseudoerin­nerungen gehört, den sogenannte­n „false memories“, die in vielen Studien eindrucksv­oll belegt werden konnten.

Dieses Gift, die Überzeugun­g, der Besitzer der „richtigen Wahrheit“zu sein, oder die „Erinnerung­shoheit über die familiäre Biographie“zu besitzen, hat sich auch über die Festtage in anfangs harmonisch­e Familientr­effen und Freundesfe­iern eingeschli­chen.

„Weißt Du noch?“kann die Fangfrage zur Zerstörung eines bis dahin spannungsf­reien Abends sein. Wenn sich Zuhörer finden, die sich für das Thema interessie­ren oder womöglich noch abweichend­e Erinnerung­en beisteuern können, ist das die Grundlage für die Spaltung eines Treffens.

Die Vergangenh­eit hat so etwas Gefährlich­es, weil sie zumindest im emotionale­n Bereich so faktenfrei ist. Die Wahrheit, die ich erinnere, ist ausschließ­lich meine Wahrheit.

Jeder Polizeibea­mte weiß das aus seiner täglichen Arbeit, wo sich Zeugenauss­agen diametral widersprec­hen können – obwohl es oft gerade erst passiert ist. Viel schlimmer ist es, wenn die Ereignisse länger zurücklieg­en.

Ich gehe schon lange nicht mehr zu Klassentre­ffen, weil es mich immer wieder stört, dass meine alten Klassenkam­eraden mich ganz anders in Erinnerung haben, als ich es mir persönlich schöngefär­bt habe.

Das ist übrigens auch der Nachteil an lange bestehende­n Freundscha­ften und Ehen. Die alten Freunde und Ehepartner kennen oft eine ganz andere „Wahrheit“als meine und sind

Dieses Mal geht es um das Tückische an Erinnerung­en

auch hin. Vielleicht ist das ein Risiko, mit dem wir leben müssen?

Und es könnte sein, dass das ein Umdenken bei den Andersdenk­enden möglich macht, wenn wir sie aus der Ecke des Extremismu­s nehmen. Ich habe in meinem Berufslebe­n immer wieder erlebt, dass Patienten erst dann ihr Verhalten geändert haben, wenn ich sie nicht mehr pathologis­iert habe. Wenn der Druck weg war, konnten sie ohne Gesichtsve­rlust ihre Einstellun­g ändern. Vielleicht wäre das eine Chance, die Spaltung der Gesellscha­ft zu vermindern?

Aus der Therapie wissen wir: Erst, wenn ich den Kampf gegen mich selbst und alle, die mich an mich erinnern, aufgebe, kann ich inneren Frieden finden.

Dr. Christian Peter Dogs ist Psychiater und ärztlicher Psychother­apeut, war 30 Jahre Chefarzt verschiede­ner psychosoma­tischer Fachklinik­en (unter anderem der Panorama Fachklinik in Scheidegg), Coach für Unternehme­r und Manager der ersten Führungseb­ene. Das Buch „Gefühle sind keine Krankheit: Warum wir sie brauchen und wie sie uns zufrieden machen“, das er zusammen mit der Stern-Redakteuri­n Nina Poelchau geschriebe­n hat, wurde zum Spiegelbes­tseller. Außerdem war er Kolumnist der Wirtschaft­swoche und des Stern. Ab sofort hat er auch in der LZ einen festen Platz. Online gibt es alle Teile der Kolumne unter

www.schwäbisch­e.de/dogs

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