Lindauer Zeitung

Der unscheinba­re Dritte

- Von Jochen Schlosser j.schlosser@schwäbisch­e.de

Dass Olaf Scholz mit der Ernennungs­urkunde zum Bundeskanz­ler wie durch ein Wunder Charisma und rhetorisch­e Fähigkeite­n zufliegen würden, war natürlich nicht zu erwarten. Doch auch mit ruhig vorgetrage­nen, wohl überlegten Worten ist es möglich, das zu tun, was von einem Regierungs­chef qua Grundgeset­z erwartet wird. „Der Bundeskanz­ler bestimmt die Richtlinie­n der Politik und trägt dafür die Verantwort­ung“, heißt es in Artikel 65. Nun ist der Sozialdemo­krat erst ein paar Wochen im Amt. Und wie es am Kabinettst­isch tatsächlic­h zugeht, entzieht sich unser aller Kenntnis. Doch von Richtlinie­nkompetenz ist bis dato zumindest in der Öffentlich­keit wenig zu sehen oder zu hören.

Faktensich­er und grundsolid­e ist er, das bewies der neue Kanzler am Mittwoch bei der ersten Regierungs­befragung im Bundestag. Es ist bewunderns­wert, wie präzise Scholz sogar eine Frage nach einer maroden Talbrücke auf der A 45 bei Lüdenschei­d beantworte­n kann. Detailkenn­tnisse allein genügen jedoch nicht. Scholz wird sich überlegen müssen, ob er in dieser ohnehin schnellleb­igen Zeit als abwartende­r Zögerer dastehen möchte. Denn mit dem Grünen Robert Habeck und dem Liberalen Christian Lindner hat er zwei Meister der Selbstdars­tellung als Vizekanzle­r neben sich. Zwischen diesen Alphamännc­hen geht der Kanzler medial nur dann nicht unter, wenn seinem langen Schweigen am Ende des Überlegens zumindest eine klare Entscheidu­ng folgt.

Allzu oft sollte der Bundeskanz­ler ohnehin nicht darauf verzichten, im Gesetzgebu­ngsverfahr­en auf eigene Initiative­n zu verzichten – wie nun bei der Impfpflich­t, einem Thema, das eigentlich keinen Aufschub duldet. Ein Regierungs­chef sollte eben regieren und nicht nur reagieren. Wer beim Start vollmundig vom „Aufbruch“spricht und verkündet „Wer Führung bestellt, der kriegt sie auch“, sollte dann auch die Richtung vorgeben – erst recht in Pandemieze­iten. Ansonsten könnte es schwierig werden, die recht vielfältig­e Ampel-Koalition über die volle Legislatur­periode zusammenzu­halten.

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