Der unscheinbare Dritte
Dass Olaf Scholz mit der Ernennungsurkunde zum Bundeskanzler wie durch ein Wunder Charisma und rhetorische Fähigkeiten zufliegen würden, war natürlich nicht zu erwarten. Doch auch mit ruhig vorgetragenen, wohl überlegten Worten ist es möglich, das zu tun, was von einem Regierungschef qua Grundgesetz erwartet wird. „Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung“, heißt es in Artikel 65. Nun ist der Sozialdemokrat erst ein paar Wochen im Amt. Und wie es am Kabinettstisch tatsächlich zugeht, entzieht sich unser aller Kenntnis. Doch von Richtlinienkompetenz ist bis dato zumindest in der Öffentlichkeit wenig zu sehen oder zu hören.
Faktensicher und grundsolide ist er, das bewies der neue Kanzler am Mittwoch bei der ersten Regierungsbefragung im Bundestag. Es ist bewundernswert, wie präzise Scholz sogar eine Frage nach einer maroden Talbrücke auf der A 45 bei Lüdenscheid beantworten kann. Detailkenntnisse allein genügen jedoch nicht. Scholz wird sich überlegen müssen, ob er in dieser ohnehin schnelllebigen Zeit als abwartender Zögerer dastehen möchte. Denn mit dem Grünen Robert Habeck und dem Liberalen Christian Lindner hat er zwei Meister der Selbstdarstellung als Vizekanzler neben sich. Zwischen diesen Alphamännchen geht der Kanzler medial nur dann nicht unter, wenn seinem langen Schweigen am Ende des Überlegens zumindest eine klare Entscheidung folgt.
Allzu oft sollte der Bundeskanzler ohnehin nicht darauf verzichten, im Gesetzgebungsverfahren auf eigene Initiativen zu verzichten – wie nun bei der Impfpflicht, einem Thema, das eigentlich keinen Aufschub duldet. Ein Regierungschef sollte eben regieren und nicht nur reagieren. Wer beim Start vollmundig vom „Aufbruch“spricht und verkündet „Wer Führung bestellt, der kriegt sie auch“, sollte dann auch die Richtung vorgeben – erst recht in Pandemiezeiten. Ansonsten könnte es schwierig werden, die recht vielfältige Ampel-Koalition über die volle Legislaturperiode zusammenzuhalten.