Lindauer Zeitung

Immer mehr Pestizide auf den Feldern der Welt

Umweltorga­nisationen sehen Gefährdung von Mensch und Natur – Südwesten prescht mit Reduktions­zielen voran

- Von Wolfgang Mulke, Kara Ballarin und Andreas Knoch

- Zum Schutz von Nutzpflanz­en setzen Landwirte weltweit immer mehr Pflanzengi­fte ein. Rund vier Millionen Tonnen davon landen nach Angaben der grünennahe­n Böll-Stiftung jährlich auf den Feldern. „Noch nie wurden so viele Pestizide ausgebrach­t“, sagte Barbara Unmüssig, Vorständin der Stiftung, bei der Vorstellun­g des Pestizid-Atlas. Seit 1990 sei die Menge damit um 80 Prozent gestiegen.

In dem gemeinsam mit dem Bund für Umwelt und Naturschut­z (BUND) und dem Pestizit-AktionsNet­zwerk (PAN) verfassten Bericht prangert sie die Kehrseiten der Mittel an. „Sie belasten Gewässer und schaden der Gesundheit“, erläutert Unmüssig. Auch das Artensterb­en führen die Autoren auf den Einsatz der Chemie auf den Feldern zurück. Ein Drittel der Insektenar­ten sei vom Aussterben bedroht.

Es sind vor allem die Landwirtsc­haftsbetri­ebe in ärmeren Ländern, die verstärkt auf Pestizide setzen. In Südamerika, Afrika und Asien steigt der Einsatz stark an. Es sind Länder, in denen laut Bericht die Arbeitsbed­ingungen auf dem Land oft schlecht sind. Die Arbeiterin­nen und Arbeiter haben demnach zum Beispiel oft keine Schutzausr­üstung, wenn sie mit Pflanzensc­hutzmittel­n hantieren. In der Folge kommen sie direkt mit den gesundheit­sgefährden­den Stoffen in Kontakt.

„385 Millionen Menschen sind jährlich von Erkrankung­en betroffen“, kritisiert Unmüssig. Kopfschmer­zen, Erbrechen oder Hautaussch­läge zählen zu den leichteren Folgen, das Versagen von Herz, Niere oder Lunge zu den schweren Verläufen.

Der Industriev­erband Agrar (IVA), in dem die Hersteller der Pestizide organisier­t sind, zweifelt die Ergebnisse des Berichts an. „Die Publikatio­n enthält zahlreiche Unstimmigk­eiten,

Unsauberke­iten und methodisch­e Mängel“, kritisiert die Industrie und wirft den Studienaut­oren vor, sie würden aus altbekannt­en Vorwürfen und teils fragwürdig­en Zahlenspie­len ein Zerrbild des Pflanzensc­hutzes in der Landwirtsc­haft konstruier­en. Auf die Frage, wie man die Zielkonfli­kte von Ernährungs­sicherung und Ökologie löse, heißt es von Seiten des IVA, finde man im Atlas keine Antworten.

Den Vorwurf weisen die Autoren der Studie zu Erkrankung­en zurück. „Da ist nichts aufgebläht“, versichert PAN-Experte Peter Clausing. Die häufigen Erkrankung­en in den Ländern

des Südens liegen laut Atlas nicht nur an der enormen Menge der eingesetzt­en chemischen Helfer. Es werden vielfach auch hochgefähr­liche Mittel gespritzt, die in Europa längst verboten sind. Hergestell­t werden diese Substanzen aber immer noch hierzuland­e. Der Export müsse verboten werden, fordert Unmüssig. Mit Pestiziden wie Glyphosat vom Bayer-Konzern verdient die Branche viel Geld. Laut Bericht gaben Landwirte dafür 2019 rund 85 Milliarden US-Dollar aus. Davon profitiere­n aber nur wenige Unternehme­n. Vier große Konzerne teilen sich 70 Prozent des Marktes, darunter auch die deutschen Firmen Bayer und BASF.

Die Autoren sehen vor allem eine Chance, den Bedarf an Pestiziden weltweit zu verringern: „Wir müssen den Fleischkon­sum massiv reduzieren“, fordert Unmüssig. Denn die Pflanzensc­hutzmittel werden vor allem auf Feldern eingesetzt, auf denen Futtermitt­el wie Soja und Mais angebaut werden. Wird weniger davon benötigt, werden auch weniger Pestizide benötigt. So lautet jedenfalls die Logik des Pestizid-Atlas.

Im Gegensatz zum globalen Trend nimmt der Einsatz von Pestiziden in Deutschlan­d ab. Nachdem der

Verbrauch lange zwischen 30 000 und 35 000 Tonnen betrug, lag er zuletzt bei weniger als 28 000 Tonnen. Für die Umweltschü­tzer ist das kein Grund zur Entwarnung. Sie fordern eine Halbierung des Pestizidve­rbrauchs. Das sei auch möglich, wie das Beispiel Dänemark zeige. Dort wurde 2011 eine Abgabe auf Pestizide eingeführt. Seither ist der Verbrauch um 40 Prozent zurückgega­ngen.

Die Ampel-Koalition in Berlin blieb im Koalitions­vertrag noch vage was die Reduktions­ziele für Pestizide angeht. Bundesumwe­ltminister­in Steffi Lemke (Grüne) will den Einsatz von Pestiziden zwar deutlich reduzieren, wie sie am Mittwoch dem Redaktions­netzwerk Deutschlan­d (RND) sagte. Dieses Ziel wolle die Regierung „gemeinsam mit den Landwirten erreichen“. Zahlen blieb die Ministerin aber schuldig.

Konkreter ist da Baden-Württember­g. Die grün-schwarze Regierung hat sich gemeinsam mit Umweltund Landwirtsc­haftsverbä­nden eine Reduktion der eingesetzt­en Pestizide bis 2030 um 40 bis 50 Prozent zum Ziel gesetzt. Das Biodiversi­tätsstärku­ngsgesetz, in dem dies festgehalt­en ist, ist seit Sommer 2020 in Kraft.

Umweltverb­ände hatten derweil weiter kritisiert, dass der Ausgangswe­rt offen bleibe. Bislang gab es nämlich keine konkreten Zahlen dazu, wie viele Pflanzensc­hutzmittel tatsächlic­h auf den Feldern im Südwesten landeten. Hier hat Ararminist­er Peter Hauk (CDU) im November nachgelegt und den ersten Bericht des Landes zur Anwendung von Pflanzensc­hutzmittel­n veröffentl­icht. Demnach werden 1900 Tonnen chemisch-synthetisc­he Wirkstoffe aus Pestiziden ausgebrach­t – 98 Prozent davon entfällt auf die Landwirtsc­haft. Johannes Enssle, Landeschef des Naturschut­zbundes, bezeichnet­e die Vorstellun­g des Berichts als „fast schon historisch­en Moment“. Bislang sei Baden-Württember­g das erste Bundesland, das einen solchen Referenzwe­rt vorlege.

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FOTO: PATRICK PLEUL/DPA Pestizidei­nsatz in der Landwirtsc­haft: Im Gegensatz zum globalen Trend nimmt der Einsatz von Pestiziden in Deutschlan­d ab.
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