Eine Chance für den Bundestag
Annalena Baerbock hatte zur Feier des Tages ihr schönstes, blaues Kleid angezogen, Angela Merkel nahm lächelnd auf der Ehrentribüne Platz und im Plenarsaal wurden jede Menge Selfies gemacht. Freudig und festlich war die Stimmung Ende Oktober, als der Bundestag nach der Wahl erstmals zusammenkam: Die „Herzkammer der Demokratie“nahm ihren Betrieb auf – und alle waren mächtig stolz. Zu Recht, ist doch das Parlament als Kontrolleur der Regierung und Organ der Gesetzgebung eine der wichtigsten Instanzen der Demokratie.
Umso irritierender, dass es jetzt in Sachen Gesetzgebung mächtig klemmt – bei der Impfpflicht. Das Hin- und Hergeschiebe offenbart nicht nur eine Verantwortungsverweigerung aufseiten der Regierung. Auch im Bundestag hält sich die Begeisterung über die zugewiesene „Leadership“, wie es Kanzler Olaf Scholz (SPD) nannte, in Grenzen. Nun wird an Anträgen gefeilt, aber Feuereifer ist nicht zu spüren. Die FDP, die stets auf parlamentarische Mitsprache in der Pandemie gepocht hatte, macht bislang nur mit der Ablehnungshaltung Wolfgang Kubickis von sich reden. Der Union wiederum ist es wichtiger, das Führungsversagen von Scholz vorzuführen.
Das alles steht im Kontrast zur eben zelebrierten Bedeutung, hat aber leider auch Tradition: So war es in der Eurokrise erst ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das den Bundestag quasi zu mehr Mitsprache verdonnerte. Auch die ausufernden Koalitionsverträge nehmen immer mehr von ebenjenen Gesetzesverhandlungen vorweg, die Sache des Parlaments sein sollten. Das heißt nun nicht, dass der Bundestag jedes legislative Vorhaben an sich ziehen sollte. Im Alltag hat es sich bewährt, die Gesetzgebung in den Ministerien anlaufen zu lassen. Aber Alltag ist die Impfpflicht eben nicht, auch wenn es ungeschickt war, das Thema regierungsseitig zu einer Frage von Leben und Tod zu erklären. Zumal sich das inzwischen wie eine Ausrede dafür anhört, die Sache – nicht zuletzt mangels eigener Mehrheit – in sicherer Entfernung zu halten. Der Bundestag wiederum sollte die Chance nutzen und zeigen, wie gesund und munter die „Herzkammer“schlägt.