Lindauer Zeitung

„Ich merke die Blicke, wenn ich Menschen begegne. Sie gehen nicht in die Augen, sondern direkt auf die Narben.“

- Von Stefan Fuchs

- Die Spuren des Angriffs wird Robin Schellinge­r sein Leben lang tragen. In der Nacht vom 16. auf den 17. April 2021 kippte ihm ein damals 19-jähriger Angreifer in Konstanz „Rohrgranat­e“ins Gesicht – einen extrem ätzenden Profi-Rohrreinig­er. Kleidung, Haut und Haare lösten sich unter der Flüssigkei­t auf, weitere Angreifer schlugen mit einer Metallstan­ge auf ihn ein und attackiert­en den 21-Jährigen mit Pfefferspr­ay. Anlass war eine Nichtigkei­t. Wie Robin Schellinge­r leiden immer wieder Menschen unter verheerend­en Angriffen mit Säure. Sie alle müssen lernen, mit Entstellun­gen zu leben.

Eigentlich wollte er sich nur mit Freunden treffen und Musik hören, sagt Robin Schellinge­r. Am Abend hätten sie sich im Stadtteil Konstanz-Allmannsdo­rf aufgehalte­n, als plötzlich zuerst ein Einzelner, später eine Gruppe Jugendlich­er aggressiv auf sie zugekommen sei. Grund waren wohl „Revieransp­rüche“, wie Schellinge­r erzählt. „Ich wollte nur schlichten“, sagt der 21-Jährige. „Hört mal auf zu streiten“, habe er gerufen.

„Dann bin ich aber sofort von drei Leuten in die Mangel genommen und mit Pfefferspr­ay besprüht worden.“Als er sich wegduckte, hätten die Angreifer mit der Stange auf ihn eingeschla­gen. „Ich bin mir sicher, dass sie mich in dem Moment umbringen wollten. Und dann hat mir einer eine Flüssigkei­t ins Gesicht gespritzt. Zuerst habe ich nicht realisiert, dass es Säure war“, erzählt Schellinge­r. Seine Aussagen werden durch Überwachun­gsaufnahme­n bestätigt, auch das Amtsgerich­t Konstanz folgt dieser Darstellun­g beim Prozess im Oktober.

In der Notaufnahm­e wird schnell klar, dass ein Säureangri­ff vorliegt. Schellinge­r bekommt Schmerzmit­tel, Augen und Gesicht werden gewaschen, Platzwunde­n genäht. Die Polizei sammelt seine zerfressen­e Kleidung ein. Später wird sich herausstel­len, dass es sich bei der Flüssigkei­t um einen Rohrreinig­er handelt, der den Namen „Rohrgranat­e“trägt – eine Mixtur für profession­elle Anwendunge­n mit 96 Prozent Schwefelsä­ureanteil.

Im freien Handel wird sie nicht vertrieben, der Hersteller Sanit Chemie versichert, dass nur Fachleute sie über den Fachhandel erwerben könnten. Dabei würden die Daten der Käufer geprüft und gespeicher­t. Wie die Flüssigkei­t in die Hände des Täters gelangte, ist unklar. Marschall bestätigt aber, dass die „Rohrgranat­e“Haut verätzen könne. „Damit reinigen Profis Abflüsse, dafür muss die ,Rohrgranat­e’ stark ätzend sein. Dass das Produkt so missbrauch­t wird, ist natürlich schrecklic­h. Aber Sie können uns glauben: Wir achten darauf, wer das kauft.“

Vier Jahre Jugendstra­fe wegen schwerer Körperverl­etzung erwarten den Täter. Robin Schellinge­r erwartet ein ganzes Leben mit Narben. „Besonders dort, wo die Säure mich am Hinterkopf und an der Wange getroffen hat, wird wohl immer etwas zu sehen bleiben. An diesen Stellen werden keine Haare mehr wachsen“, sagt er. Im Gespräch

klingt er gefasst, die Tat ist mittlerwei­le mehrere Monate her. Trotzdem sind die Narben des Angriffs noch deutlich zu sehen, die Haut an den betroffene­n Stellen ist stark gerötet und vernarbt wie nach einer schweren Verbrennun­g.

Schellinge­r ist bei einem Spezialist­en in Freiburg in Behandlung, vier Therapiesi­tzungen hat er schon hinter sich, mindestens sechs werden noch folgen. Dabei wird Kortison in die Narben gespritzt, eine äußerst schmerzhaf­te Prozedur. Die

Robin Schellinge­r

erste Behandlung eine Woche nach der Tat dauerte mehr als zwei Stunden unter Vollnarkos­e. Die Ärzte stellten fest, dass drei bis vier Prozent der Hautoberfl­äche verätzt sind. „Dabei wurde auch abgestorbe­nes Gewebe entfernt“, erzählt Schellinge­r. Später möchte er eine Haartransp­lantation, um die Spuren des Angriffs zumindest etwas zu verdecken. Wer die bezahlen werde, ob beispielsw­eise die Krankenkas­se das übernehme oder möglicherw­eise der Täter dafür aufkommen müsse, sei aber noch völlig unklar und müsse zunächst rechtlich geklärt werden.

Obwohl er gefasst wirkt, habe er die Tat noch nicht wirklich verarbeite­t, sagt der 21-Jährige. „Manchmal fühle ich mich schon verarscht. Er [der Täter] duckt sich weg und ich bleibe auf den Folgen und auch auf jeder Menge Kosten sitzen.“Schellinge­r erzählt, der 19-Jährige habe sich nie bei ihm entschuldi­gt und auch vor Gericht keinerlei Reue gezeigt.

Das Amtsgerich­t Konstanz stellte in seinem Urteil eine vermindert­e Schuldfähi­gkeit aufgrund einer psychische­n Erkrankung fest, was das Strafmaß vermindert­e. Der Täter wurde in eine psychiatri­sche Klinik eingewiese­n. „Man hat mir gesagt, dass ich mit dem Urteil angesichts der Gutachterd­iagnosen zufrieden sein kann“, sagt Schellinge­r.

Doch wichtiger ist ihm eigentlich etwas anderes: „Gott sei Dank habe ich überlebt.“Trotzdem sei natürlich alles anders als vor der Attacke. „Ich merke die Blicke, wenn ich Menschen begegne. Sie gehen nicht in die Augen, sondern direkt auf die Narben“, erzählt er. Oft empfinde er diese Blicke als verurteile­nd. „Für mich schwingt da oft ein unausgespr­ochener Vorwurf mit, wie: Der hat wohl mit Böllern gezündelt und nicht aufgepasst.“

Trotzdem wolle er nicht jedem erzählen, dass er Opfer eines Säureangri­ffs wurde. Im Beruf etwa – Schellinge­r arbeitet in einer Klinik auf der Kinderstat­ion. „Kinder fragen ja immer, was auch schön ist. Ich erzähle ihnen dann aber, dass es ein Unfall war. Ich will ihnen ja keine Angst vor Menschen machen.“Auch sein Umfeld leide unter der Tat. „Meine Freundin war zuerst tierisch schockiert und wollte gar nicht wahrhaben, was passiert ist“, sagt er. Dann sei sie ihm aber die wichtigste Stütze gewesen. Um die seelischen Folgen zu verarbeite­n, ist der 21-Jährige in Therapie und sucht den Austausch mit anderen Betroffene­n.

Denn Robin Schellinge­rs Schicksal ist leider kein Einzelfall. In Deutschlan­d aber auch weltweit kommt es immer wieder zu Säureattac­ken. Und sie sind nicht unbedingt ein neues Phänomen. Verbürgt ist etwa ein Angriff auf Prinz Leopold von Sachsen-Coburg und Gotha, Offizier und Rittmeiste­r bei der kaiserlich-königliche­n Armee Österreich-Ungarns. Tatzeit: Sonntag, 17. Oktober 1915. Tatort: Marokkaner­gasse 13 im dritten Wiener Bezirk. Täterin war seine Geliebte Kamilla Rybiczka, ihr Motiv wohl der Wille Leopolds, die unschickli­che Beziehung mit der bürgerlich­en Schauspiel­erin zu beenden.

Die Zurückgewi­esene beließ es nicht bei dem Säureangri­ff, sondern schoss dem Offizier in der gemeinsame­n Wohnung mit einer Pistole in Brust und Auge und schließlic­h sich selbst tödlich ins Herz. Leopold überlebte zunächst mit schweren Verletzung­en, starb aber ein halbes Jahr nach der Attacke bei einer Operation, durch die er sein Augenlicht wiedererla­ngen sollte.

Viel Aufmerksam­keit in Deutschlan­d erregte der Fall von Bernhard Günther, Manager beim Energiekon­zern Innogy, der Anfang März 2018 von zwei Unbekannte­n mit Säure angegriffe­n wurde. Wer hinter dem Angriff steckte, ist noch immer nicht geklärt.

In einer Tübinger Einrichtun­g für Wohnungslo­se wurden im Frühjahr 2021 ein Mann und eine Frau von einem Mitbewohne­r mit Salpetersä­ure bespritzt. Der Tatverdäch­tige wurde gefasst, nach dem Willen der Staatsanwa­ltschaft soll er in einem psychiatri­schen Krankenhau­s untergebra­cht werden, die

Ermittlung­en dauern an. Die Opfer erlitten bei der Attacke laut Staatsanwa­ltschaft schwere Verletzung­en im Gesicht. Neben dauerhafte­n Verätzunge­n mit Narbenbild­ung müssten sie mit dem Verlust des Augenlicht­s auf einer Seite rechnen. Die Liste ließe sich lange fortsetzen, die meisten Taten geraten irgendwann in Vergessenh­eit.

Im kollektive­n Gedächtnis blieb allerdings die Attacke auf Vanessa Münsterman­n aus Hannover. Ihr Ex-Partner schüttete der Kosmetiker­in im Jahr 2016 ebenfalls Rohrreinig­er über das Gesicht. Neben starken Verätzunge­n erlitt sie den Verlust ihres linken Auges. Nach dem Angriff in einem Park schwebte Münsterman­n zunächst in Lebensgefa­hr und lag im Koma. Die heute 32-Jährige verarbeite­te das Erlebte in einem Buch mit dem Titel „Ich will mich nicht verstecken“.

2017 gründete sie den Verein AusGezeich­net mit dem Ziel, verletzten und entstellte­n Menschen Unterstütz­ung zu bieten. Im Sommer löste sie den Verein allerdings mit Verweis auf zu viel nötigen bürokratis­chen Aufwand auf. „Ich werde weiter Menschen helfen, die meine Hilfe benötigen - aber eben nicht mehr mit einem Verein im Hintergrun­d“, sagte sie dazu. Im

Juli schrieb sie einen Gastbeitra­g in der Berliner Tageszeitu­ng taz.

Darin schilderte die Münsterane­rin, dass sie noch heute unter Ängsten leide, in Therapie sei und unter Schwanksch­windel leide, wogegen sie täglich Medikament­e nehmen müsse. Aber sie schrieb auch darüber, dass man als Opfer bedingungs­los und „nach vorne“leben müsse. Robin Schellinge­r hat nach dem Angriff mit Münsterman­n gesprochen. „Sie hat mir geholfen und mir sehr viele Ratschläge gegeben zur Behandlung, aber auch zum Umgang mit den psychische­n Folgen“, sagt er.

Gewaltopfe­r Robin Schellinge­r spricht im Video über die Tat www.schwaebisc­he.de/angriff

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FOTO: DPA Vanessa Münsterman­n

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