„Ich merke die Blicke, wenn ich Menschen begegne. Sie gehen nicht in die Augen, sondern direkt auf die Narben.“
- Die Spuren des Angriffs wird Robin Schellinger sein Leben lang tragen. In der Nacht vom 16. auf den 17. April 2021 kippte ihm ein damals 19-jähriger Angreifer in Konstanz „Rohrgranate“ins Gesicht – einen extrem ätzenden Profi-Rohrreiniger. Kleidung, Haut und Haare lösten sich unter der Flüssigkeit auf, weitere Angreifer schlugen mit einer Metallstange auf ihn ein und attackierten den 21-Jährigen mit Pfefferspray. Anlass war eine Nichtigkeit. Wie Robin Schellinger leiden immer wieder Menschen unter verheerenden Angriffen mit Säure. Sie alle müssen lernen, mit Entstellungen zu leben.
Eigentlich wollte er sich nur mit Freunden treffen und Musik hören, sagt Robin Schellinger. Am Abend hätten sie sich im Stadtteil Konstanz-Allmannsdorf aufgehalten, als plötzlich zuerst ein Einzelner, später eine Gruppe Jugendlicher aggressiv auf sie zugekommen sei. Grund waren wohl „Revieransprüche“, wie Schellinger erzählt. „Ich wollte nur schlichten“, sagt der 21-Jährige. „Hört mal auf zu streiten“, habe er gerufen.
„Dann bin ich aber sofort von drei Leuten in die Mangel genommen und mit Pfefferspray besprüht worden.“Als er sich wegduckte, hätten die Angreifer mit der Stange auf ihn eingeschlagen. „Ich bin mir sicher, dass sie mich in dem Moment umbringen wollten. Und dann hat mir einer eine Flüssigkeit ins Gesicht gespritzt. Zuerst habe ich nicht realisiert, dass es Säure war“, erzählt Schellinger. Seine Aussagen werden durch Überwachungsaufnahmen bestätigt, auch das Amtsgericht Konstanz folgt dieser Darstellung beim Prozess im Oktober.
In der Notaufnahme wird schnell klar, dass ein Säureangriff vorliegt. Schellinger bekommt Schmerzmittel, Augen und Gesicht werden gewaschen, Platzwunden genäht. Die Polizei sammelt seine zerfressene Kleidung ein. Später wird sich herausstellen, dass es sich bei der Flüssigkeit um einen Rohrreiniger handelt, der den Namen „Rohrgranate“trägt – eine Mixtur für professionelle Anwendungen mit 96 Prozent Schwefelsäureanteil.
Im freien Handel wird sie nicht vertrieben, der Hersteller Sanit Chemie versichert, dass nur Fachleute sie über den Fachhandel erwerben könnten. Dabei würden die Daten der Käufer geprüft und gespeichert. Wie die Flüssigkeit in die Hände des Täters gelangte, ist unklar. Marschall bestätigt aber, dass die „Rohrgranate“Haut verätzen könne. „Damit reinigen Profis Abflüsse, dafür muss die ,Rohrgranate’ stark ätzend sein. Dass das Produkt so missbraucht wird, ist natürlich schrecklich. Aber Sie können uns glauben: Wir achten darauf, wer das kauft.“
Vier Jahre Jugendstrafe wegen schwerer Körperverletzung erwarten den Täter. Robin Schellinger erwartet ein ganzes Leben mit Narben. „Besonders dort, wo die Säure mich am Hinterkopf und an der Wange getroffen hat, wird wohl immer etwas zu sehen bleiben. An diesen Stellen werden keine Haare mehr wachsen“, sagt er. Im Gespräch
klingt er gefasst, die Tat ist mittlerweile mehrere Monate her. Trotzdem sind die Narben des Angriffs noch deutlich zu sehen, die Haut an den betroffenen Stellen ist stark gerötet und vernarbt wie nach einer schweren Verbrennung.
Schellinger ist bei einem Spezialisten in Freiburg in Behandlung, vier Therapiesitzungen hat er schon hinter sich, mindestens sechs werden noch folgen. Dabei wird Kortison in die Narben gespritzt, eine äußerst schmerzhafte Prozedur. Die
Robin Schellinger
erste Behandlung eine Woche nach der Tat dauerte mehr als zwei Stunden unter Vollnarkose. Die Ärzte stellten fest, dass drei bis vier Prozent der Hautoberfläche verätzt sind. „Dabei wurde auch abgestorbenes Gewebe entfernt“, erzählt Schellinger. Später möchte er eine Haartransplantation, um die Spuren des Angriffs zumindest etwas zu verdecken. Wer die bezahlen werde, ob beispielsweise die Krankenkasse das übernehme oder möglicherweise der Täter dafür aufkommen müsse, sei aber noch völlig unklar und müsse zunächst rechtlich geklärt werden.
Obwohl er gefasst wirkt, habe er die Tat noch nicht wirklich verarbeitet, sagt der 21-Jährige. „Manchmal fühle ich mich schon verarscht. Er [der Täter] duckt sich weg und ich bleibe auf den Folgen und auch auf jeder Menge Kosten sitzen.“Schellinger erzählt, der 19-Jährige habe sich nie bei ihm entschuldigt und auch vor Gericht keinerlei Reue gezeigt.
Das Amtsgericht Konstanz stellte in seinem Urteil eine verminderte Schuldfähigkeit aufgrund einer psychischen Erkrankung fest, was das Strafmaß verminderte. Der Täter wurde in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. „Man hat mir gesagt, dass ich mit dem Urteil angesichts der Gutachterdiagnosen zufrieden sein kann“, sagt Schellinger.
Doch wichtiger ist ihm eigentlich etwas anderes: „Gott sei Dank habe ich überlebt.“Trotzdem sei natürlich alles anders als vor der Attacke. „Ich merke die Blicke, wenn ich Menschen begegne. Sie gehen nicht in die Augen, sondern direkt auf die Narben“, erzählt er. Oft empfinde er diese Blicke als verurteilend. „Für mich schwingt da oft ein unausgesprochener Vorwurf mit, wie: Der hat wohl mit Böllern gezündelt und nicht aufgepasst.“
Trotzdem wolle er nicht jedem erzählen, dass er Opfer eines Säureangriffs wurde. Im Beruf etwa – Schellinger arbeitet in einer Klinik auf der Kinderstation. „Kinder fragen ja immer, was auch schön ist. Ich erzähle ihnen dann aber, dass es ein Unfall war. Ich will ihnen ja keine Angst vor Menschen machen.“Auch sein Umfeld leide unter der Tat. „Meine Freundin war zuerst tierisch schockiert und wollte gar nicht wahrhaben, was passiert ist“, sagt er. Dann sei sie ihm aber die wichtigste Stütze gewesen. Um die seelischen Folgen zu verarbeiten, ist der 21-Jährige in Therapie und sucht den Austausch mit anderen Betroffenen.
Denn Robin Schellingers Schicksal ist leider kein Einzelfall. In Deutschland aber auch weltweit kommt es immer wieder zu Säureattacken. Und sie sind nicht unbedingt ein neues Phänomen. Verbürgt ist etwa ein Angriff auf Prinz Leopold von Sachsen-Coburg und Gotha, Offizier und Rittmeister bei der kaiserlich-königlichen Armee Österreich-Ungarns. Tatzeit: Sonntag, 17. Oktober 1915. Tatort: Marokkanergasse 13 im dritten Wiener Bezirk. Täterin war seine Geliebte Kamilla Rybiczka, ihr Motiv wohl der Wille Leopolds, die unschickliche Beziehung mit der bürgerlichen Schauspielerin zu beenden.
Die Zurückgewiesene beließ es nicht bei dem Säureangriff, sondern schoss dem Offizier in der gemeinsamen Wohnung mit einer Pistole in Brust und Auge und schließlich sich selbst tödlich ins Herz. Leopold überlebte zunächst mit schweren Verletzungen, starb aber ein halbes Jahr nach der Attacke bei einer Operation, durch die er sein Augenlicht wiedererlangen sollte.
Viel Aufmerksamkeit in Deutschland erregte der Fall von Bernhard Günther, Manager beim Energiekonzern Innogy, der Anfang März 2018 von zwei Unbekannten mit Säure angegriffen wurde. Wer hinter dem Angriff steckte, ist noch immer nicht geklärt.
In einer Tübinger Einrichtung für Wohnungslose wurden im Frühjahr 2021 ein Mann und eine Frau von einem Mitbewohner mit Salpetersäure bespritzt. Der Tatverdächtige wurde gefasst, nach dem Willen der Staatsanwaltschaft soll er in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht werden, die
Ermittlungen dauern an. Die Opfer erlitten bei der Attacke laut Staatsanwaltschaft schwere Verletzungen im Gesicht. Neben dauerhaften Verätzungen mit Narbenbildung müssten sie mit dem Verlust des Augenlichts auf einer Seite rechnen. Die Liste ließe sich lange fortsetzen, die meisten Taten geraten irgendwann in Vergessenheit.
Im kollektiven Gedächtnis blieb allerdings die Attacke auf Vanessa Münstermann aus Hannover. Ihr Ex-Partner schüttete der Kosmetikerin im Jahr 2016 ebenfalls Rohrreiniger über das Gesicht. Neben starken Verätzungen erlitt sie den Verlust ihres linken Auges. Nach dem Angriff in einem Park schwebte Münstermann zunächst in Lebensgefahr und lag im Koma. Die heute 32-Jährige verarbeitete das Erlebte in einem Buch mit dem Titel „Ich will mich nicht verstecken“.
2017 gründete sie den Verein AusGezeichnet mit dem Ziel, verletzten und entstellten Menschen Unterstützung zu bieten. Im Sommer löste sie den Verein allerdings mit Verweis auf zu viel nötigen bürokratischen Aufwand auf. „Ich werde weiter Menschen helfen, die meine Hilfe benötigen - aber eben nicht mehr mit einem Verein im Hintergrund“, sagte sie dazu. Im
Juli schrieb sie einen Gastbeitrag in der Berliner Tageszeitung taz.
Darin schilderte die Münsteranerin, dass sie noch heute unter Ängsten leide, in Therapie sei und unter Schwankschwindel leide, wogegen sie täglich Medikamente nehmen müsse. Aber sie schrieb auch darüber, dass man als Opfer bedingungslos und „nach vorne“leben müsse. Robin Schellinger hat nach dem Angriff mit Münstermann gesprochen. „Sie hat mir geholfen und mir sehr viele Ratschläge gegeben zur Behandlung, aber auch zum Umgang mit den psychischen Folgen“, sagt er.
Gewaltopfer Robin Schellinger spricht im Video über die Tat www.schwaebische.de/angriff