Benedikt und der Fall H.
Pfarrer hat jahrzehntelang Kinder missbraucht – Gutachten soll auch Rolle des emeritierten Papstes beleuchten
(dpa) - Es wird ernst im Erzbistum München: In der kommenden Woche soll ein lange unter Verschluss gehaltenes Gutachten zu sexuellem Missbrauch vorgestellt werden. Der Umgang mit dem bislang bekanntesten Fall könnte auch einen Papst in Bedrängnis bringen.
„Was haben wir da für einen tollen Pfarrer“, hat Rosi Mittermeier lange gedacht – wie viele andere in ihrer Kirchengemeinde in Garching an der Alz auch. „Man hat sich da blenden lassen“, sagt sie heute. Dieser „tolle Pfarrer ist die Hauptfigur in einem der schlagzeilenträchtigsten Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche. Was die Gemeinde zwei Jahrzehnte lang nicht wusste: Als Priester H. Ende der 1980er-Jahre seine Stelle in Garching antrat, war er ein verurteilter Missbrauchstäter.
Das Amtsgericht Ebersberg hatte den zuvor in Grafing bei München tätigen damaligen Kaplan H. im Juni 1986 wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger zu 18 Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung und einer Geldstrafe in Höhe von 4000 Mark verurteilt. H. wurde angewiesen, sich in eine Psychotherapie zu begeben.
Dass er auf Bewährung war, als er in Garching anfing, war dort nicht bekannt – auch Stefan und seiner Familie nicht. „Diesen verurteilten und untherapierbaren Mann dann wieder in eine Gemeinde zu schicken und mit so vielen Kindern und Jugendlichen arbeiten zu lassen, das macht einen einfach nur fassungslos und ein Stück weit aggressiv“, sagt Stefan in einem Interview von „Correctiv“und dem Bayerischen Rundfunk.
Der Mann, der den Angaben zufolge heute um die 40 Jahre alt ist, gibt an, von dem verurteilten Serientäter H. über mehrere Jahre missbraucht worden zu sein. Er ist damit nach Angaben der Initiative „Sauerteig“das vierte mutmaßliche Garchinger Opfer des Pfarrers, das bislang bekannt ist.
2021 hatte das Erzbistum eingeräumt, dass H. auch nach seiner Versetzung in die oberbayerische Gemeinde, auch nach seinem Gerichtsurteil, weiter Kinder missbrauchte. 2008 wurde H. – nach rund 20 Jahren – aus der Gemeinde abberufen und erneut versetzt, dieses Mal nach Bad Tölz. Inzwischen ist er suspendiert und in sein Heimatbistum Essen zurückbeordert worden.
Nach Bistumsangaben ist nach dem Amtsantritt von Kardinal Reinhard Marx als Münchner Erzbischof ein forensisches Gutachten zu H. erstellt worden. Es „rechtfertigte aus Sicht des Ordinariats nicht den Verbleib von H. in der Pfarrseelsorge“, teilte das Bistum nach Bekanntwerden des Falls 2010 mit.
Marx' Vorgänger im Amt des Münchner Erzbischofs, Kardinal Friedrich Wetter, formulierte im gleichen Jahr eine Entschuldigung: „Ich habe die Fähigkeit eines Menschen zu persönlicher Umkehr überschätzt, und ich habe die Schwierigkeiten einer therapeutischen Behandlung von pädophil Veranlagten unterschätzt. Mir ist jetzt schmerzlich bewusst, dass ich damals eine andere Entscheidung hätte treffen müssen.“
Als „Verrat an der Botschaft Jesu“und „ein Versagen der Institution“bezeichnete Marx den Fall H. im vergangenen Jahr bei einem Besuch in der Garchinger Kirchengemeinde, bei dem er um Verzeihung bat.
Garching an der Alz liegt nur knapp 30 Autominuten entfernt von Marktl am Inn, der Geburtsstadt des bayerischen Papstes Benedikt XVI. Der heute emeritierte Papst war als Kardinal Joseph Ratzinger von 1977 bis 1982 Erzbischof von München und Freising und damit im Dienst als Priester H. nach Bayern versetzt und in Grafing bei München eingesetzt wurde, nachdem er zuvor in seinem Heimatbistum Essen in NordrheinWestfalen Kinder missbraucht haben soll. Die Rolle des späteren Papstes in dem Skandal um H. ist seit Jahren so unklar wie umstritten.
Bekannt ist, dass es ein kircheninternes Dekret zum Fall H. von 2016 gibt. Zuletzt berichtete die „Zeit“, dass darin auch Ratzinger explizit genannt werde: Obwohl er von der Vorgeschichte des mutmaßlichen
Missbrauchspriesters Kenntnis gehabt habe, habe er ihn in seinem Bistum aufgenommen und eingesetzt.
Klarheit wird erhofft von dem Gutachten der Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW), das verspricht, Missbrauchsfälle im Erzbistum systematisch aufzuarbeiten und das in der kommenden Woche in München veröffentlicht werden soll. Laut „Correctiv“und BR hat der mutmaßliche Betroffene Stefan auch mit der Kanzlei gesprochen.
Benedikts Privatsekretär Georg Gänswein hat Vorwürfe gegen seinen Chef bestritten: „Die Behauptung, er (Benedikt) hätte Kenntnis von der Vorgeschichte zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Aufnahme des Priesters H. gehabt, ist falsch.“Benedikt begrüße die Aufarbeitung sowie die Veröffentlichung des Gutachtens.
Auch der Autor und RatzingerVertraute Peter Seewald warf sich für den bayerischen Papst in die Bresche: Das Gutachten werde bestätigen, das Ratzinger weder die Vorgeschichte des Pfarrers gekannt habe noch daran beteiligt gewesen sei, dass der Mann wieder in der Seelsorge eingesetzt wurde. Die Vorwürfe jetzt zu platzieren, sei „gewissermaßen die letzte Möglichkeit, um ungeniert spekulieren und den früheren Papst anklagen zu können, unabhängig von Fakten und Untersuchungsergebnissen“, sagte Seewald.- „Das Kalkül ist: egal, ob die Vorwürfe stimmen oder nicht – irgendwas wird schon hängenbleiben.“
Rosi Mittermeier von der Initiative „Sauerteig“sieht vor allem eines: „Systemfehler haben dieses Ausmaß an Missbrauch ermöglicht – über Jahrzehnte.“