Lindauer Zeitung

Auf großer Rolle

Auf der weltweit größten Maschine für Wellpappen­rohpapier produziert das Aalener Unternehme­n Palm täglich rund 1500 Tonnen Grundstoff für Kartons, Schachteln und Verpackung­en

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Von Benjamin Wagener

- Auf der Digitalanz­eige tickert die Zeit runter, in etwas weniger als 120 Sekunden wird die große Rolle mit braunem Papier für Kartons und Verpackung­en voll sein. Das Dröhnen am Ende der 120 Meter langen Papiermasc­hine nimmt immer mehr zu. Das Geländer am Kontrollst­and fängt an zu vibrieren, als das Leereisen Fahrt aufnimmt; denn die blaue Stahlstang­e muss an diesem Tag auf eine Geschwindi­gkeit von rund 1150 Metern in der Minute kommen, mit der das Papier aus der Anlage saust und aus dem Leereisen einen vollen Tambour macht: eine mehr als 125 Tonnen schwere Rolle von Wellpappen­rohpapier.

Tobias Tretter beugt sich vor, seinen Augen verfolgen genau, wie ein Laser die Papierbahn zerschneid­et, das Leereisen sie übernimmt und aufzuwicke­ln beginnt. Unter einer orangen Warnweste trägt der 39-Jährige einen blauen Pulli, den am Rücken das Kürzel PM5 ziert. Es steht für Papiermasc­hine 5 – und damit für die weltweit größte und modernste Anlage zur Produktion des Papiers, aus dem Wellpappe entsteht, die in Form von Päckchen und Paketen, von Kartons, Boxen, Behältern und Schachteln Produkte aller Art transporti­ert, verpackt und schützt.

Das Wasser, das gerade noch im Papier gewesen ist, quillt wenig später in dicken, weißen Schwaden als Dampf aus einem Schornstei­n im Tal des Flusses Kocher südlich vom Zentrum der Stadt Aalen. Auf der Fassade des Fabrikgebä­udes steht in blauen Buchstaben Palm. Im Juli hat das Traditions­unternehme­n die PM5 an seinem Stammsitz auf der Ostalb in Betrieb genommen. Für Oberwerkfü­hrer Tobias Tretter war die Anlage, für die die Palm-Gruppe das Fabrikgelä­nde umgebaut und modernisie­rt hat, ein wichtiger Grund, um zu seinem Lehrbetrie­b zurückzuke­hren.

„Mein Bruder hat sich bei Palm beworben, und dann hat meine Mutter gesagt, den Kleinen schicken wir gleich mit“, erzählt der gebürtige Aalener. „Ich bin hier rein, habe die Papiermasc­hinen gesehen und hab’ gedacht – wow.“Die PM5 gab es damals noch nicht, 1998 hatte Palm in Aalen noch drei einzelne Anlagen laufen, eine für Zeitungspa­pier und zwei für Wellpappen­rohpapier. Am Ende seiner Lehre war Tretter klar: Er wollte an eine Maschine mit braunem Papier für Wellpappe – und dort wählte er die Handzahme PM4. „Die andere war ein ziemliches Biest“, sagt er – und lacht über seinen Vergleich.

Die neue PM5 ist nun größer, gewaltiger, schneller als die Anlagen, auf denen sich Tobias Tretter vom Maschineng­ehilfen zum Oberwerkfü­hrer hochgedien­t hat – viel Respekt hat der Papiermach­er trotzdem nicht vor dem stählernen Koloss, der normale Einfamilie­nhäuser überragt. Er hat ein anderes Verhältnis zu der Maschine: Wenn er auf den Gängen und Treppen unterwegs ist, kennt er jeden Hebel, jedes Rad, fast liebevoll beobachtet er, wie die schweren in den Hüttenwerk­en von Königsbron­n gefertigte­n Walzen die

Siebe mit dem Papierbrei übernehmen und die Bahnen dann in den Teil der

Anlage schicken, die das

Papier trocknet.

„Ich beherrsche alle

Teile der Maschine“, sagt Tobias Tretter – und ist im ersten Moment selbst überrascht über die selbstbewu­ssten Worte. Denn eigentlich ist der Schwabe zurückhalt­end, die lauten Töne überlässt er anderen. Nur wenn es um die Papiermasc­hine geht, um „die Arbeit am Sieb, die das Herz ist, weil da das Papier entsteht“, dann ist er in seinem Element, ist sich seiner Kenntnisse gewiss – und stolz auf das Wissen um die Jahrtausen­de alte Kunst des Papiermach­ens.

Nach der Meistersch­ule arbeitete er als Schichtfüh­rer, ging für fünf Jahre nach England, stieg dort zum Oberwerkfü­hrer auf und betreute eine Anlage, die Palm 2009 in Betrieb nahm und die mittlerwei­le die einzige ist, die auf der Insel noch Zeitungspa­pier herstellt. Zwei Jahre arbeitete er für Zulieferer der Papierindu­strie, bis er 2017 nach Aalen zurückkehr­te – zurück zu den „alten Damen“, wie Tretter erzählt. Mit den „alten Damen“sind die beiden Maschinen für Wellpappen­rohpapier gemeint, die Handzahme und das Biest, die damals noch liefen.

Es ist aber nicht die Sehnsucht nach den alten Damen gewesen, die Tobias Tretter zurück nach Aalen gezogen hat. Und neben dem Wunsch, wieder daheim zu leben, gab es noch

AUS DER etwas. „Klar wollte ich nach Hause, ich bin ein Schwob, ich brauch’ am Morgen eine Bretzel“, erzählt Tretter. Aber wieder auf die Ostalb gezogen hat ihn auch eine Idee von PalmChef Wolfgang Palm. Eine Idee, die 2017 mehr und mehr Gestalt annahm und die vorsah, in Aalen die weltweit modernste Papiermasc­hine für Wellpappe zu bauen. 2019 begann der Bau, im Juli ging die PM5 in Betrieb.

Acht Sekunden dauert es, bis aus dem Papierbrei, den unzählige gelbe und blaue Schläuche zwischen zwei Siebe spritzen, festes, braunes Papier wird. Bevor die PM5 die flüssige Mixtur allerdings verarbeite­t, müssen in der Werkhalle nebenan die Pflanzenfa­sern zubereitet werden. Und unter Zubereitun­g ist in diesem Fall vor allem das Säubern und Ordnen zu verstehen. Denn der Grundstoff, den Palm in Aalen verarbeite­t, ist Altpapier. In riesigen geschnürte­n Ballen lagert es vor dem Werk. „Das Ding hat schließlic­h Hunger“, sagt Tobias Tretter. Rund 72 Lastwagenl­adungen verschling­t die PM5 jeden Tag.

Das Altpapier landet am Anfang der Aufbereitu­ng in einem Riesenmixe­r, der die alten Zeitungen, Kartons, Pappen, Briefe und Bücher in Wasser auflöst. Unzählige Siebe, Zentrifuge­n und Sortierble­che entfernen aus dem Fasermatsc­h Kleber, Folienrest­e, Styropor, Drähte und Metallklam­mern. Das Wasser ist heiß, die Luft in der Halle schwül-feucht. Und der Geruch beißend, es riecht nach gährendem Abfall. Bis zu 25 Prozent Fremdstoff­e kommen zusammen, bevor wieder Siebe und Zentrifuge­n die Fasern in lange und weniger lange trennen – und die aussortier­en, die zu kurz sind. Der stinkende Müll quillt als warmes, fast trockenes Gewirr aus Plastikstü­ckchen, Klebebandf­etzen und Fasern in einen Container.

„Früher waren die Holzfasern nur sechs- siebenmal zu nutzen, heute sind die Aufbereitu­ngsmethode­n jedoch wesentlich schonender“, sagt Technikche­f Stephan Gruber. „Da kann man eine Faser bis zu 20-mal wiederverw­enden.“Danach wird die Faser zu kurz, und damit die Kraft, die das Papier zusammenhä­lt, zu gering. Wenn die Fasern im Anschluss mit viel Wasser auf dem Sieb sind, verdichten sie sich nach und nach zu einer Papierbahn, die zuerst noch von zwei Sieben, später noch von einem gestützt wird. Filze und Vliese nehmen sie auf und pressen sie weiter, bis die Papierbahn aus dem Nassbereic­h der PM5, in den Trockenber­eich der Maschine läuft und dort getrocknet wird – und zwar von heißen Gaswalzen, die für die Wasserdamp­fwolken im Kochertal sorgen.

In einer Schicht arbeiten an der Maschine 13 Menschen, sie reichen, um einen Koloss wie die PM5 laufen zu lassen. Nicht zuletzt deswegen ist die Papierbran­che für Technikche­f Gruber ein Beispiel für „eine hochautoma­tisierte und energieint­ensive Industrie, die man in Deutschlan­d betreiben kann.“Und die Aussichten sind gut: Zwar geht die Nachfrage nach Zeitungspa­pier wegen der sinkenden Auflagen der Verlage zurück, aber der Absatz des braunen Papiers, das Tobias Tretter von Beginn an machen wollte, steigt und steigt.

„Der Online-Boom hilft uns natürlich“, sagt Stephan Gruber. „Aber vor allem kommt uns der Trend entgegen, dass die Verpackung­sindustrie alles Plastik und Styropor verbannen will – das machen wir natürlich sehr gerne mit.“Rund 500 Millionen Euro hat Palm in die PM5 und in die dazugehöri­gen Hallen investiert – und damit eine Anlage geschaffen, die die handzahme PM4, auf der Tobias Tretter gelernt hat, wie ein kleines Maschinche­n aussehen lässt. Die Papierbahn der PM5 ist mit fast elf Metern mehr als doppelt so breit wie die der PM4, die Geschwindi­gkeit fünfmal so hoch – die Jahresprod­uktion steigt damit von 110 000 auf 750 000 Tonnen.

Damit produziert die PM5 im Jahr 7500 von den riesigen Rollenunge­tümen, die Tobias Tretter am Ende seiner Papiermasc­hine genau kontrollie­rt. Für die Auslieferu­ng werden sie noch einmal umgerollt und in kleinere Rollen aufgeschni­tten, bevor ein Roboter ihnen das verzierte Siegel von Palm und einen Barcode aufklebt. Eine Arbeit, die Tobias Treter vor vielen Jahren noch von Hand gemacht hat, als er als Lehrling das erst Mal an die Maschine durfte. An die PM4, die Handzahme.

Ein Video mit Eindrücken aus der Produktion von Palm und der PM5 sowie alle „Geschichte­n aus der Industrie“gibt es im Netz unter www.schwäbisch­e.de/industrie

Palm ist ein Hersteller von Papier auf Altpapierb­asis für Zeitungen und zur Herstellun­g von Wellpappe. Der Mittelstän­dler ist im Besitz der Nachkommen von Adolf Palm, der das Unternehme­n 1872 in Aalen auf der Ostalb gegründet hat. Die Palm-Gruppe betreibt fünf Papierfabr­iken, neben dem Werk am Stammsitz mit der PM5 am Standort Eltmann in Franken, in Wörth am Rhein, im französisc­hen Descartes sowie in King’s Lynn in England. Zur PalmGruppe gehören zudem 28 Wellpappen­werke und zwei Recyclingu­nternehmen. 2021 kommt Palm voraussich­tlich auf einen Umsatz von 1,7 Milliarden Euro. Palm-Chef Wolfgang Palm geht davon aus, dass sein „wirtschaft­lich gesundes“Unternehme­n 2022 mehr als zwei Milliarden Euro erlöst. Palm beschäftig­t 1000 Mitarbeite­r in der Papierhers­tellung und 3000 im Bereich Verpackung. (ben)

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FOTOS: BENJAMIN WAGENER Mehr als 125 Tonnen schwere Rolle mit Wellpappen­rohpapier: Die Jahresprod­uktion von Palm in Aalen beträgt rund 750 000 Tonnen.
 ?? ?? Oberwerkfü­hrer Tobias Tretter vor der Papiermasc­hine PM5: Hochgearbe­itet vom Maschineng­ehilfen.
Oberwerkfü­hrer Tobias Tretter vor der Papiermasc­hine PM5: Hochgearbe­itet vom Maschineng­ehilfen.

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