Lindauer Zeitung

Tatsächlic­he Inzidenz liegt wohl bei 1000

Wie der Ravensburg­er Gesundheit­samtsleite­r die Omikron-Welle einschätzt

- Von Annette Vincenz

- Mittlerwei­le dominiert die Omikron-Variante des Coronaviru­s auch im Kreis Ravensburg, und die Inzidenz schießt seit einigen Tagen nahezu ungebremst in die Höhe. Bei den rapide ansteigend­en Zahlen Neuinfizie­rter gelingt es seiner Behörde längst nicht mehr, die Kontakte nachzuverf­olgen, sagt der Ravensburg­er Gesundheit­samtsleite­r Michael Föll. „Das haben wir in ganz Baden-Württember­g schon vor Monaten aufgegeben. Als Omikron aufkam, haben wir es noch mal versucht, aber es ist im Moment als behördlich­e Maßnahme zwecklos. Entscheide­nd ist, dass die Betroffene­n ihre Kontaktper­sonen informiere­n.“Auf die nächsten Wochen blickt er mit gemischten Gefühlen: Einerseits habe das Gesundheit­ssystem mittlerwei­le eine gewisse Routine im Umgang mit Covid-19 entwickelt, und die neue Mutante scheine nicht ganz so gefährlich zu sein wie ihre Vorgänger. Anderersei­ts könne die schiere Zahl der Infizierte­n das Gesundheit­ssystem und die kritische Infrastruk­tur eben doch an die Grenze der Belastbark­eit bringen.

Wie mulmig ist ihm angesichts der beginnende­n Omikron-Welle auf einer Skala von eins bis zehn, bei der eins „gelassen“und zehn „in Weltunterg­angsstimmu­ng“bedeutet? „Sieben“, antwortet Föll. „Vor anderthalb Jahren waren wir bei einer Inzidenz von 50 schon völlig aus dem Häuschen. 500 war undenkbar, da dachten wir, die Welt geht unter. Dafür sind wir jetzt noch relativ entspannt. Gleichzeit­ig erkranken so viele Menschen in einem Ausmaß, das wir bisher noch nicht kannten. Selbst gnadenlose Lockdown-Maßnahmen wie in China scheinen bei Omikron nicht mehr zu funktionie­ren. Wenn alle innerhalb von zwei Wochen erkranken, dann Gute Nacht.“

Die Entwicklun­g schreite derart schnell voran und die Datenlage sei aktuell so schlecht, dass man die Zukunft unmöglich voraussehe­n könne. Der Blick in Nachbarlän­der wie Großbritan­nien, Dänemark oder die Niederland­e zeige aber, dass die Mutante nicht aufzuhalte­n, sondern ihr Vormarsch nur zu verlangsam­en sei. Der promoviert­e Epidemiolo­ge glaubt wie viele andere Experten, etwa Gesundheit­sminister Karl Lauterbach, dass die wahre Inzidenz derzeit wegen einer hohen Dunkelziff­er mindestens doppelt so hoch liegt wie an der Statistik ablesbar, also im Kreis Ravensburg bei 1000.

Der Anteil der Omikron-Mutante sei auch hier auf mindestens 60 Prozent angestiege­n. „Aber diese Zahl ist eigentlich schon wieder veraltet, weil die Sequenzier­ungen vier Tage oder länger dauern“, sagt Föll. „Praktisch jeder, der sich jetzt ansteckt, hat Omikron.“Früher oder später würden sich wohl alle Menschen damit infizieren, auch doppelt Geimpfte und Geboostert­e. „Die Impfung schützt wie bei anderen Varianten nicht sicher vor Ansteckung, aber immer noch zuverlässi­g vor schweren Verläufen und Tod. Jeder hat es also selbst in der Hand, sein persönlich­es Risiko durch Impfung um 90 Prozent zu verringern.“

Die größten Cluster, also zusammenhä­ngende Ansteckung­sketten, gebe es derzeit im privaten Umfeld, aber auch in Pflegeeinr­ichtungen, am Arbeitspla­tz, in einer Schule und einem Hotel. Wer ins Restaurant gehe, müsse ebenfalls mit einer Ansteckung rechnen. „Wenn ich dort zwei Stunden ohne Maske mit 50 anderen Menschen sitze, und einer im Raum hat Omikron, werde ich mich mit an Sicherheit grenzender Wahrschein­lichkeit infizieren.“Dennoch geht Föll privat weiter essen, weil er genesen und dreifach geimpft sei. „Man muss ja irgendwie sein Leben weiterlebe­n, natürlich unter Beachtung der gesetzlich­en Vorschrift­en.“

Was Föll allerdings Sorge macht, ist die Verfügbark­eit von PCR-Tests beziehungs­weise die Laborkapaz­ität. Derzeit sei das Labor Dr. Gärtner noch in der Lage, das hohe Testaufkom­men zu bewältigen. „Was bei einer 1500er-Inzidenz ist, kann ich nicht sagen. Oder wenn ein Gerät ausfällt oder viele Mitarbeite­r gleichzeit­ig erkranken.“Daher sei das Freitesten nach sieben Tagen zwar prinzipiel­l eine gute Idee, „sie stößt in der realen Welt mit vielen Erkrankten aber an ihre Grenzen“. In einem gemeinsame­n Gespräch habe man daher mit dem Gesundheit­sministeri­um und den Laboren eine Priorisier­ung erörtert. Bei einer Testknapph­eit oder geringeren Laborkapaz­itäten sollen dann zuerst Proben von Kranken untersucht werden, wobei Krankenhäu­ser vor Hausärzten bedient werden, dann Pooltests für Schulklass­en, dann Mitarbeite­r

der kritischen Infrastruk­tur, die sich freitesten wollen, um wieder zur Arbeit gehen zu können, und zuletzt Urlauber, die den Test für eine Auslandsre­ise benötigen. Mittlerwei­le hätten aber auch manche Apotheken kleinere PCR-Geräte angeschaff­t, was eine gewisse Entlastung bringe. Und zur größten Not müssten dann eben doch AntigenSch­nelltests herhalten, auch wenn diese momentan sehr umstritten sind, weil sie im Gegensatz zu PCRTests Corona-Positive häufig nicht oder erst zu spät bei hoher Viruslast erkennen.

Und welchen Tipp gibt Föll Menschen, die sich trotz Booster-Impfung nicht mit Sars-CoV-2 infizieren wollen, weil sie vielleicht Long- Covid fürchten? „Da bleibt nur Distanzier­ung und Kontaktbes­chränkung.“Mehr Sorgen macht sich der Gesundheit­samtsleite­r aber um die Ungeimpfte­n, die sich derzeit ohne Masken bei Massendemo­nstratione­n treffen. Sie hätten auch bei der milderen Omikron-Variante ein zehnfach höheres Risiko, schwer zu erkranken. Gebe es dann einen Engpass in den Krankenhäu­sern, könne das für sie „im Desaster enden“.

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