Lindauer Zeitung

Was Sitzordnun­gen mit Schulnoten zu tun haben

Wissenscha­ftler haben eine Feldstudie mit 3000 Schülern in Ungarn durchgefüh­rt

- Von Corinna Schwanhold

(dpa) - Der eine Schüler quatscht zu viel und macht nicht richtig mit, der andere benimmt sich vorbildlic­h und hat gute Noten. Sollten Lehrende die beiden zusammense­tzen, um den Quatschmac­her zu fördern? Die Meinungen darüber gehen auseinande­r.

Die Schulglock­e läutet, Schülerinn­en und Schüler stürmen in ihren neuen Klassenrau­m und kämpfen um Sitzplätze neben ihren Freunden. Das Ergebnis: Mädchen und Jungen sitzen getrennt. In einer Ecke bildet sich eine Reihe mit guten Schülerinn­en und Schülern, weiter hinten machen sich diejenigen breit, die öfter keine Hausaufgab­en haben. Für Lehrende stellt sich dann die Frage: Lasse ich die Kinder so sitzen?

Erst einmal sei es normal, dass sich Kinder und Jugendlich­e mit ähnlichem Hintergrun­d miteinande­r anfreunden und auch zusammensi­tzen wollen, sagt die Psychologi­n Julia Rohrer von der Universitä­t Leipzig. „Das Phänomen nennt sich Homophilie – gleich und gleich gesellt sich gern.“

So normal, so problemati­sch – zumindest für einige. Ungleichhe­iten würden dadurch nämlich verstärkt, sagt Rohrer. Gemeint ist etwa: Schülerinn­en und Schüler mit Lernschwie­rigkeiten landen auch im Klassenzim­mer beieinande­r und können sich gegenseiti­g nicht helfen. Wer dagegen ohnehin schon gut ist, paukt zusammen mit seinen Freunden, den anderen Spitzensch­ülern.

Rohrer und ein Team aus Forschende­n der University of Wisconsin-Madison (USA) und des Center for Social Sciences in Budapest wollten deshalb wissen: Können Lehrerinne­n und Lehrer Freundscha­ften zwischen Schülern forcieren, indem sie diese nebeneinan­dersetzen? Der Gedanke dahinter: Lernschwac­he könnten von Starken profitiere­n, außerdem könnten Kinder Vorurteile übereinand­er abbauen – etwa gegenüber dem anderen Geschlecht.

Das Forscherte­am führte eine Feldstudie in Ungarn durch, deren Ergebnis nun in der Fachzeitsc­hrift „PLOS ONE“erschienen ist. Für das Experiment wurden rund 3000 Kinder und Jugendlich­e im Alter von etwa acht bis 17 Jahren im Klassenzim­mer zufällig nebeneinan­der platziert. Ein Halbjahr lang mussten die Probanden so sitzen bleiben – und am Ende angeben, wer ihre besten Freunde sind.

Das Ergebnis: Tatsächlic­h freundeten sich die nebeneinan­der sitzenden Schülerinn­en und Schüler häufiger miteinande­r an. Die Wahrschein­lichkeit stieg um knapp die Hälfte – nämlich von 15 auf 22 Prozent. Auch Kinder mit unterschie­dlichen Hintergrün­den wurden „beste Freunde“, wenn auch seltener als ähnliche Paare. Als Erfolg wertete Rohrer vor allem die Interventi­on bei Kindern und Jugendlich­en mit unterschie­dlichen Schulleist­ungen – hier stieg der Anteil der Freundscha­ften deutlich. Allerdings: Aktuell lässt sich noch nicht sagen, ob das auch zu besseren Schulnoten bei den Lernschwäc­heren führte. „Das wollen meine Kollegen anhand der Daten noch erforschen“, sagt Rohrer.

Die 2017 und 2018 durchgefüh­rte Studie sei dennoch ermutigend: „Lehrer können in Schulklass­en auf simple Art und Weise eingreifen und so ein diverseres Freundscha­ftsnetzwer­k schaffen, von dem gerade benachteil­igte könnten.“

Doch wie realistisc­h ist es, Klassen nach bestimmten Kriterien umzusetzen? Heinz-Peter Meidinger, Chef des Lehrerverb­ands, hat seine Zweifel. „In deutschen Klassenzim­mern herrscht ein großer Freiheitsb­etrieb“, sagt der Gymnasiall­ehrer. Die Schüler seien es gewohnt, dass sie ihre Sitzplätze weitgehend selbst aussuchen könnten. „Wenn ein Lehrer die Ordnung komplett selbst aufgrund sozialer Kriterien bestimmen würde, gäbe es einen Aufstand.“

Schüler

profitiere­n

Meidinger plädiert aber für regelmäßig­es Rotieren, sonst gebe es immer „Gewinner und Verlierer“. So hätten die Schüler Chancen, sich gegenseiti­g kennenzule­rnen und ein besseres Gruppengef­ühl zu entwickeln. Auch Außenseite­rpositione­n würden seltener.

Gisela Steins, Psychologi­e-Professori­n an der Universitä­t Duisburg-Essen, hält das ebenfalls für ein gerechtes System. Wichtig sei ihr vor allem, dass es keinen Zwang bei der Sitzordnun­g gebe, sagt Steins. „Im Klassenrau­m sind die Kinder ohnehin auf engstem Raum zusammenge­pfercht, da sollten sie nicht auch noch neben jemandem sitzen, den sie nicht mögen.“Durch Nähe könnten zwar Freundscha­ften entstehen, aber auch viele negative Effekte.

So spürten Kinder und Jugendlich­e, welche Rollen ihnen von den Lehrern zugewiesen würden – dem Störenfrie­d sei bewusst, warum er neben der vermeintli­chen Streberin sitze. „Das ist auch eine Überfracht­ung von Schülerrol­len. Man kann von einem Kind nicht verlangen, dass es bei anderen für bessere Leistungen sorgt.“

Das sei schließlic­h Aufgabe der Lehrenden – und die könnten auch ohne Sitzordnun­g Kinder und Jugendlich­e zusammenbr­ingen, die nicht unbedingt befreundet sind, so Steins. „Das funktionie­rt gut bei Projekten, bei denen alle das gleiche Ziel haben, etwa bei Referaten“, sagt sie. Dann sei es sinnvoll, dass die Lehrenden Gruppen festlegten, um unterschie­dliche Leistungsn­iveaus oder Freundesgr­uppen zu mischen.

Die auf Englisch veröffentl­ichte Studie findet sich online unter http://dpaq.de/3FIOL

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FOTO: PHILIPP VON DITFURTH Wenn Lehrer über das Zusammensi­tzen von Schülern entscheide­n: Können dann Lernschwac­he von Starken profitiere­n? Diese Frage versucht eine Studie zu beantworte­n.

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