Lindauer Zeitung

Die Spuren der Gewalt

Nachweise sichern, weibliche Opfer behandeln und stärken – Dominice Häni arbeitet als Forensic Nurse in Zürich – Die Krankensch­wester erkennt mit geschultem Auge, ob eine Patientin misshandel­t wurde

- Von Franziska Pröll

Sie weiß noch, dass sie das Telefon zwischen Kopf und Schulter geklemmt hatte. Die Stimme der Anruferin habe gezittert, erzählt Dominice Häni. Sie sei vergewalti­gt worden, sagte sie, von ihrem Ex-Freund. Während Häni, die als Krankensch­wester in einem Züricher Krankenhau­s arbeitet, mit der Frau telefonier­t, bindet sie zur Blutabnahm­e den Arm einer Patientin ab, die ein schreiende­s Baby bei sich hat. Auch auf dem Flur ist es laut, Mitarbeite­nde eilen durch die Gänge, Menschen warten. Ein Freitag, wie Häni ihn in der Notaufnahm­e häufig erlebt. Doch dieser Freitag im Januar 2019 ist anders.

Das liegt an dem Anruf und an dem, was noch kommen sollte. „Bei ihr ist vieles schiefgela­ufen“, sagt Häni im Frühjahr 2021 über die Anruferin. Sie habe die Patientin verunsiche­rt, ihr nicht so geholfen, wie sie es nach einer Vergewalti­gung gebraucht hätte. Weil ihr das lange nachging, beschloss Häni, sich weiterzubi­lden. Für weitere Fälle wollte sie besser vorbereite­t sein.

Häni, 37, ist nun eine sogenannte Forensic Nurse. In der Schweiz können sich Krankensch­western schulen lassen zu Spezialkrä­ften, die Menschen helfen, wenn sie Gewalt erlebt haben. In den USA werden solche Ausbildung­en seit den Neunzigern angeboten. In Deutschlan­d gibt es sie noch nicht. Hier sieht man es eher als ärztliche Aufgabe, Gewaltopfe­r zu versorgen. Für Gynäkologi­nnen oder Hausärzte gibt es Schulungen zum Erkennen von Gewalt. Weil sie durch die Behandlung leiten, nimmt man an, dass sie das Wissen dringender brauchen als Pflegekräf­te, die ihnen assistiere­n. In München haben Rechtsmedi­ziner auch Krankensch­western unterricht­et. Sechs Monate dauerte das Pilotproje­kt. Ob es wiederholt wird, ist noch nicht klar.

Alle 45 Minuten wird in Deutschlan­d eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner geschlagen, gewürgt oder mit einem Messer verletzt. 2270-mal zeigten Frauen 2020 eine Vergewalti­gung bei der Polizei an. Das Hilfetelef­on „Gewalt gegen Frauen“registrier­te 51 400 Beratungen, 15 Prozent mehr als im Vorjahr. Im Corona-Lockdown, als beide Partner mehr Zeit zu Hause verbrachte­n, schien sich die Gewalt zu verschärfe­n. Da war sie meistens schon vorher. Wer häusliche oder sexualisie­rte Gewalt erlebt, wendet sich oft nicht direkt an die Polizei. Viele Betroffene haben Angst vor stundenlan­gen Vernehmung­en. Nach dem Übergriff können sie meist keine klaren Gedanken fassen. Wie sollen sie da welche ausspreche­n? Lieber lassen sie sich von Fachleuten beraten. Wenn sie schwerer verletzt sind, wenn sie die „Pille danach“oder ein Medikament zur HIV-Prophylaxe brauchen, suchen sie Rat bei Ärzten und Pflegekräf­ten. Manche Betroffene erleiden Platzwunde­n, vaginale Verletzung­en oder Knochenbrü­che. Anderen sehen Ärzte und Pflegekräf­te nicht an, was sie durchgemac­ht haben.

Anna Müller, wie die Anruferin in diesem Text heißen soll, ist nicht von Wunden gezeichnet, als sie etwa zwei Stunden nach dem Telefonat in der Klinik eintrifft. Halt und Hilfe benötigt die Frau trotzdem. Im Januar 2019 meldet sie sich am Empfang der Klinik in Zürich, erinnert sich Häni. Müller spricht von Schmerzen im Unterleib und will sich untersuche­n lassen. Vergewalti­gungen hinterlass­en manchmal millimeter­kleine Risse in der Vagina, mit dem Auge kaum erkennbar, sehr schmerzhaf­t. Patientinn­en wie Anna Müller werden ganz genau untersucht. Wie in Deutschlan­d auch, sichert medizinisc­hes Personal in der Schweiz die Spuren von Gewalt. Ärzte und Pflegerinn­en entnehmen Blut und Urin, packen Unterwäsch­e in Papiertüte­n und fotografie­ren Verletzung­en. Das Material archiviere­n sie so, dass Geschädigt­e darauf zugreifen können, wenn sie sich zu einem späteren Zeitpunkt dazu entscheide­n, die Tat bei der Polizei zu melden. Anzeigenun­abhängige oder vertraulic­he Spurensich­erung heißt das Prozedere in der Sprache von Ärztinnen und Polizisten.

Ihre Patientin hat Häni auch zwei Jahre später noch genau vor Augen. Die Krankensch­wester sitzt am Tisch in einem der Behandlung­sräume. Während sie spricht blicken ihre braunen Augen zur Tür, so als könne Anna Müller jeden Moment wiederkomm­en. In Hänis Erinnerung trägt sie einen schwarzen Hoodie, die Kapuze hat sie weit in ihr bleiches Gesicht gezogen. Die Krankensch­wester und die Assistenzä­rztin, eine Gynäkologi­n, untersuche­n Anna Müller, als sie nach eineinhalb Stunden Warten an der Reihe ist.

Spuren zu sichern, darin fühlt sich Klinikpers­onal oft nicht routiniert, wie eine aktuelle Studie des Deutschen Instituts für Menschenre­chte zeigt. Opfer kommen spontan, häufig abends, wenn weniger

Personal da ist als tagsüber. Eine in der Studie befragte Ärztin sorgt sich, in der Hektik „etwas zu vergessen“und befürchtet, „etwas falsch zu machen“. In Untersuchu­ngskits, wie sie in Deutschlan­d und in der Schweiz eingesetzt werden, liegen Wattestäbc­hen, Plastikund Papiertüte­n, Lineale, ein Kamm für die Schamhaare. Wie sie damit richtig umgehen, lernen die meisten Ärztinnen und Ärzte im Studium nicht.

Anna Müller sitzt auf dem gynäkologi­schen Stuhl, starrt an die Decke. Zwei Stunden lang arbeiten sich Ärztin und Krankensch­wester durch die Dokumentat­ionsbögen. 13 Seiten, die Angaben zur Person, zum Tathergang, zur Anamnese fordern. Und zu den Verletzung­en. Jeder Kratzer, und sei er messerspit­zengroß, jede Narbe, jeder blaue Fleck muss in schemenhaf­te Darstellun­gen des Körpers eingezeich­net werden. Weil die Patientin keine sichtbaren Verletzung­en hat, verzichten Häni und die Ärztin darauf, Fotos zu machen. Sie wissen damals nicht, dass Richterinn­en und Staatsanwä­lte im Falle einer Strafanzei­ge jedes Detail einbeziehe­n, dass Fotos wichtig sind, egal, ob darauf gesunde oder verletzte Haut zu erkennen ist. Beides verrät etwas über die Tat. Nach der Untersuchu­ng verlässt Anna Müller eilig das Behandlung­szimmer. Dominice Häni drückt ihr noch eine Liste mit Frauenbera­tungsstell­en in die Hand. Sie bleibt zurück mit dem Gefühl, die Patientin eher verunsiche­rt als unterstütz­t zu haben.

Gewaltopfe­r bedürfen Hilfe auf dreierlei Art, sagt Dominice Häni: medizinisc­h, technisch und menschlich. Wunden werden versorgt. Beweise archiviert. Sie brauchen aber auch das Gefühl, gut aufgehoben zu sein. „Ich will Menschen eine Stimme geben, die nicht fähig sind, für sich zu sprechen und nach einer Gewalttat nicht einmal mehr wissen, wo oben und unten ist“, sagt Häni.

Auch als sie die Krankenakt­e von Anna Müller geschlosse­n hat, beschäftig­t Häni der Fall weiter. Zur Nachsorge erscheint die Patientin nicht. Häni ruft sie an, will wissen, ob alles in Ordnung ist. Doch es meldet sich nur die Mailbox. „Ich wollte nicht aufdringli­ch sein, also habe ich es nach ein paar Anrufen sein gelassen“, sagt Häni. Nach der Behandlung von Anna Müller nimmt sie sich vor, sicherer zu werden im Umgang mit Opfern von Gewalt. Ein paar Monate später bewirbt sie sich für die Weiterbild­ung zur Forensic Nurse. Ein Jahr dauert die berufsbegl­eitende Ausbildung am Institut für Rechtsmedi­zin der Universitä­t Zürich, einem von vier Instituten in der Schweiz, die forensisch­e Krankensch­western schulen. Rund 200 Personen haben die Lehrgänge bisher abgeschlos­sen. Dabei lernen die Pflegekräf­te, wie man sensibel mit Gewaltbetr­offenen spricht. Sie lernen das Strafrecht kennen und üben, Verletzung­en zu dokumentie­ren.

Krankensch­western kommen ihren Patienten meist besonders nah. Während sie Blutdruck messen, nach Vorerkrank­ungen fragen, Blut abnehmen, beobachten sie ihr Gegenüber. Woher kommen die blauen Flecken am gesamten Körper, an Armen und Beinen? Wirkt die Person bedrückt? Passt die Geschichte, die sie erzählt, wirklich zu den Verletzung­en? Am Ende steht oft ein vages Gefühl: Hier stimmt etwas nicht. An diesen

Punkt kam auch Juliette Galli immer wieder. 33 Jahre lang arbeitete sie als Krankensch­wester in verschiede­nen Notfallsta­tionen in der Schweiz, später auch als Forensic Nurse, bevor sie im November 2020 ans Institut für Rechtsmedi­zin nach Zürich wechselte. Nun unterstütz­t sie Rechtsmedi­zinerinnen und

Rechtsmedi­ziner, die im Auftrag der Polizei Tote oder Verletzte begutachte­n. Im Besprechun­gsraum des Instituts sitzt die 57 Jahre alte Krankensch­wester im Mai 2021 in schwarzer Lederjacke, die Ärmel hochgekrem­pelt, Tattoos am Unterarm.

Mit welchen Fragen man eine von Gewalt betroffene Frau erreicht, dafür gibt es kein Rezept. Galli sagt, sie versuche zu spüren, „was ein Mensch gibt oder nicht gibt, was er braucht oder nicht braucht“. Nicht zu allen Frauen dringen Forensic Nurses durch. „Man erreicht sie, wenn der Leidensdru­ck groß ist“, sagt Galli. Kurz nach der Tat sei ein möglicher Zeitpunkt. Wenn sich Gewalt in aller Härte entladen hat, sind Betroffene alarmiert. Nach Drohungen oder Schlägen nehmen sich Täter oft erst einmal zurück. Sie entschuldi­gen sich, versichern, sich zu bessern. Viele Betroffene beginnen dann, das Geschehene herunterzu­spielen, zu rechtferti­gen oder zu verdrängen. Weil sie hoffen, dass es ein Ausrutsche­r war, den Partner lieben oder sich schämen. Wichtig ist, nicht wegzuschau­en, sagt Galli. Frauen starten durchschni­ttlich sieben Anläufe, bis sie sich von ihrem gewalttäti­gen Partner trennen.

Im Behandlung­sraum der Züricher Klinik öffnet Dominice Häni den mintgrünen Karton. Seit Ende Mai 2021 ist auch sie eine Forensic Nurse. Da endete der insgesamt

Dominice Häni, Krankensch­wester

vierte Lehrgang in Zürich. Häni blättert durch die Dokumentat­ionsbögen. Als Forensic Nurse ist es ihre Aufgabe, Wunden zu vermessen, die ihre Patientin vergessen will. Geduldig müsse sie jeden Schritt erklären, um Erlaubnis bitten, die Grenzen der Frau respektier­en. So gelingt es, sagt Häni, „aus der kühlen Handlung, etwas Warmes zu machen“.

Bevor sie das Winkelmaß, ein rechtwinkl­iges Lineal, an ein Hämatom legt, bittet sie um Erlaubnis: „Ist das in Ordnung? Ich weiß, es wird unangenehm. Wenn es nicht mehr geht, dürfen Sie Stopp sagen.“Jedes Körperteil fotografie­rt Häni, Arme, Beine, Nacken, Bauch, nacheinand­er, ob offensicht­lich verletzt oder augenschei­nlich unversehrt. Nie zieht sich eine Frau komplett aus, sondern sie macht immer nur Teile ihres Körpers frei. So fällt das Prozedere leichter, sagt Häni. Leicht ist es allerdings nie.

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany