Die Spuren der Gewalt
Nachweise sichern, weibliche Opfer behandeln und stärken – Dominice Häni arbeitet als Forensic Nurse in Zürich – Die Krankenschwester erkennt mit geschultem Auge, ob eine Patientin misshandelt wurde
Sie weiß noch, dass sie das Telefon zwischen Kopf und Schulter geklemmt hatte. Die Stimme der Anruferin habe gezittert, erzählt Dominice Häni. Sie sei vergewaltigt worden, sagte sie, von ihrem Ex-Freund. Während Häni, die als Krankenschwester in einem Züricher Krankenhaus arbeitet, mit der Frau telefoniert, bindet sie zur Blutabnahme den Arm einer Patientin ab, die ein schreiendes Baby bei sich hat. Auch auf dem Flur ist es laut, Mitarbeitende eilen durch die Gänge, Menschen warten. Ein Freitag, wie Häni ihn in der Notaufnahme häufig erlebt. Doch dieser Freitag im Januar 2019 ist anders.
Das liegt an dem Anruf und an dem, was noch kommen sollte. „Bei ihr ist vieles schiefgelaufen“, sagt Häni im Frühjahr 2021 über die Anruferin. Sie habe die Patientin verunsichert, ihr nicht so geholfen, wie sie es nach einer Vergewaltigung gebraucht hätte. Weil ihr das lange nachging, beschloss Häni, sich weiterzubilden. Für weitere Fälle wollte sie besser vorbereitet sein.
Häni, 37, ist nun eine sogenannte Forensic Nurse. In der Schweiz können sich Krankenschwestern schulen lassen zu Spezialkräften, die Menschen helfen, wenn sie Gewalt erlebt haben. In den USA werden solche Ausbildungen seit den Neunzigern angeboten. In Deutschland gibt es sie noch nicht. Hier sieht man es eher als ärztliche Aufgabe, Gewaltopfer zu versorgen. Für Gynäkologinnen oder Hausärzte gibt es Schulungen zum Erkennen von Gewalt. Weil sie durch die Behandlung leiten, nimmt man an, dass sie das Wissen dringender brauchen als Pflegekräfte, die ihnen assistieren. In München haben Rechtsmediziner auch Krankenschwestern unterrichtet. Sechs Monate dauerte das Pilotprojekt. Ob es wiederholt wird, ist noch nicht klar.
Alle 45 Minuten wird in Deutschland eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner geschlagen, gewürgt oder mit einem Messer verletzt. 2270-mal zeigten Frauen 2020 eine Vergewaltigung bei der Polizei an. Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“registrierte 51 400 Beratungen, 15 Prozent mehr als im Vorjahr. Im Corona-Lockdown, als beide Partner mehr Zeit zu Hause verbrachten, schien sich die Gewalt zu verschärfen. Da war sie meistens schon vorher. Wer häusliche oder sexualisierte Gewalt erlebt, wendet sich oft nicht direkt an die Polizei. Viele Betroffene haben Angst vor stundenlangen Vernehmungen. Nach dem Übergriff können sie meist keine klaren Gedanken fassen. Wie sollen sie da welche aussprechen? Lieber lassen sie sich von Fachleuten beraten. Wenn sie schwerer verletzt sind, wenn sie die „Pille danach“oder ein Medikament zur HIV-Prophylaxe brauchen, suchen sie Rat bei Ärzten und Pflegekräften. Manche Betroffene erleiden Platzwunden, vaginale Verletzungen oder Knochenbrüche. Anderen sehen Ärzte und Pflegekräfte nicht an, was sie durchgemacht haben.
Anna Müller, wie die Anruferin in diesem Text heißen soll, ist nicht von Wunden gezeichnet, als sie etwa zwei Stunden nach dem Telefonat in der Klinik eintrifft. Halt und Hilfe benötigt die Frau trotzdem. Im Januar 2019 meldet sie sich am Empfang der Klinik in Zürich, erinnert sich Häni. Müller spricht von Schmerzen im Unterleib und will sich untersuchen lassen. Vergewaltigungen hinterlassen manchmal millimeterkleine Risse in der Vagina, mit dem Auge kaum erkennbar, sehr schmerzhaft. Patientinnen wie Anna Müller werden ganz genau untersucht. Wie in Deutschland auch, sichert medizinisches Personal in der Schweiz die Spuren von Gewalt. Ärzte und Pflegerinnen entnehmen Blut und Urin, packen Unterwäsche in Papiertüten und fotografieren Verletzungen. Das Material archivieren sie so, dass Geschädigte darauf zugreifen können, wenn sie sich zu einem späteren Zeitpunkt dazu entscheiden, die Tat bei der Polizei zu melden. Anzeigenunabhängige oder vertrauliche Spurensicherung heißt das Prozedere in der Sprache von Ärztinnen und Polizisten.
Ihre Patientin hat Häni auch zwei Jahre später noch genau vor Augen. Die Krankenschwester sitzt am Tisch in einem der Behandlungsräume. Während sie spricht blicken ihre braunen Augen zur Tür, so als könne Anna Müller jeden Moment wiederkommen. In Hänis Erinnerung trägt sie einen schwarzen Hoodie, die Kapuze hat sie weit in ihr bleiches Gesicht gezogen. Die Krankenschwester und die Assistenzärztin, eine Gynäkologin, untersuchen Anna Müller, als sie nach eineinhalb Stunden Warten an der Reihe ist.
Spuren zu sichern, darin fühlt sich Klinikpersonal oft nicht routiniert, wie eine aktuelle Studie des Deutschen Instituts für Menschenrechte zeigt. Opfer kommen spontan, häufig abends, wenn weniger
Personal da ist als tagsüber. Eine in der Studie befragte Ärztin sorgt sich, in der Hektik „etwas zu vergessen“und befürchtet, „etwas falsch zu machen“. In Untersuchungskits, wie sie in Deutschland und in der Schweiz eingesetzt werden, liegen Wattestäbchen, Plastikund Papiertüten, Lineale, ein Kamm für die Schamhaare. Wie sie damit richtig umgehen, lernen die meisten Ärztinnen und Ärzte im Studium nicht.
Anna Müller sitzt auf dem gynäkologischen Stuhl, starrt an die Decke. Zwei Stunden lang arbeiten sich Ärztin und Krankenschwester durch die Dokumentationsbögen. 13 Seiten, die Angaben zur Person, zum Tathergang, zur Anamnese fordern. Und zu den Verletzungen. Jeder Kratzer, und sei er messerspitzengroß, jede Narbe, jeder blaue Fleck muss in schemenhafte Darstellungen des Körpers eingezeichnet werden. Weil die Patientin keine sichtbaren Verletzungen hat, verzichten Häni und die Ärztin darauf, Fotos zu machen. Sie wissen damals nicht, dass Richterinnen und Staatsanwälte im Falle einer Strafanzeige jedes Detail einbeziehen, dass Fotos wichtig sind, egal, ob darauf gesunde oder verletzte Haut zu erkennen ist. Beides verrät etwas über die Tat. Nach der Untersuchung verlässt Anna Müller eilig das Behandlungszimmer. Dominice Häni drückt ihr noch eine Liste mit Frauenberatungsstellen in die Hand. Sie bleibt zurück mit dem Gefühl, die Patientin eher verunsichert als unterstützt zu haben.
Gewaltopfer bedürfen Hilfe auf dreierlei Art, sagt Dominice Häni: medizinisch, technisch und menschlich. Wunden werden versorgt. Beweise archiviert. Sie brauchen aber auch das Gefühl, gut aufgehoben zu sein. „Ich will Menschen eine Stimme geben, die nicht fähig sind, für sich zu sprechen und nach einer Gewalttat nicht einmal mehr wissen, wo oben und unten ist“, sagt Häni.
Auch als sie die Krankenakte von Anna Müller geschlossen hat, beschäftigt Häni der Fall weiter. Zur Nachsorge erscheint die Patientin nicht. Häni ruft sie an, will wissen, ob alles in Ordnung ist. Doch es meldet sich nur die Mailbox. „Ich wollte nicht aufdringlich sein, also habe ich es nach ein paar Anrufen sein gelassen“, sagt Häni. Nach der Behandlung von Anna Müller nimmt sie sich vor, sicherer zu werden im Umgang mit Opfern von Gewalt. Ein paar Monate später bewirbt sie sich für die Weiterbildung zur Forensic Nurse. Ein Jahr dauert die berufsbegleitende Ausbildung am Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich, einem von vier Instituten in der Schweiz, die forensische Krankenschwestern schulen. Rund 200 Personen haben die Lehrgänge bisher abgeschlossen. Dabei lernen die Pflegekräfte, wie man sensibel mit Gewaltbetroffenen spricht. Sie lernen das Strafrecht kennen und üben, Verletzungen zu dokumentieren.
Krankenschwestern kommen ihren Patienten meist besonders nah. Während sie Blutdruck messen, nach Vorerkrankungen fragen, Blut abnehmen, beobachten sie ihr Gegenüber. Woher kommen die blauen Flecken am gesamten Körper, an Armen und Beinen? Wirkt die Person bedrückt? Passt die Geschichte, die sie erzählt, wirklich zu den Verletzungen? Am Ende steht oft ein vages Gefühl: Hier stimmt etwas nicht. An diesen
Punkt kam auch Juliette Galli immer wieder. 33 Jahre lang arbeitete sie als Krankenschwester in verschiedenen Notfallstationen in der Schweiz, später auch als Forensic Nurse, bevor sie im November 2020 ans Institut für Rechtsmedizin nach Zürich wechselte. Nun unterstützt sie Rechtsmedizinerinnen und
Rechtsmediziner, die im Auftrag der Polizei Tote oder Verletzte begutachten. Im Besprechungsraum des Instituts sitzt die 57 Jahre alte Krankenschwester im Mai 2021 in schwarzer Lederjacke, die Ärmel hochgekrempelt, Tattoos am Unterarm.
Mit welchen Fragen man eine von Gewalt betroffene Frau erreicht, dafür gibt es kein Rezept. Galli sagt, sie versuche zu spüren, „was ein Mensch gibt oder nicht gibt, was er braucht oder nicht braucht“. Nicht zu allen Frauen dringen Forensic Nurses durch. „Man erreicht sie, wenn der Leidensdruck groß ist“, sagt Galli. Kurz nach der Tat sei ein möglicher Zeitpunkt. Wenn sich Gewalt in aller Härte entladen hat, sind Betroffene alarmiert. Nach Drohungen oder Schlägen nehmen sich Täter oft erst einmal zurück. Sie entschuldigen sich, versichern, sich zu bessern. Viele Betroffene beginnen dann, das Geschehene herunterzuspielen, zu rechtfertigen oder zu verdrängen. Weil sie hoffen, dass es ein Ausrutscher war, den Partner lieben oder sich schämen. Wichtig ist, nicht wegzuschauen, sagt Galli. Frauen starten durchschnittlich sieben Anläufe, bis sie sich von ihrem gewalttätigen Partner trennen.
Im Behandlungsraum der Züricher Klinik öffnet Dominice Häni den mintgrünen Karton. Seit Ende Mai 2021 ist auch sie eine Forensic Nurse. Da endete der insgesamt
Dominice Häni, Krankenschwester
vierte Lehrgang in Zürich. Häni blättert durch die Dokumentationsbögen. Als Forensic Nurse ist es ihre Aufgabe, Wunden zu vermessen, die ihre Patientin vergessen will. Geduldig müsse sie jeden Schritt erklären, um Erlaubnis bitten, die Grenzen der Frau respektieren. So gelingt es, sagt Häni, „aus der kühlen Handlung, etwas Warmes zu machen“.
Bevor sie das Winkelmaß, ein rechtwinkliges Lineal, an ein Hämatom legt, bittet sie um Erlaubnis: „Ist das in Ordnung? Ich weiß, es wird unangenehm. Wenn es nicht mehr geht, dürfen Sie Stopp sagen.“Jedes Körperteil fotografiert Häni, Arme, Beine, Nacken, Bauch, nacheinander, ob offensichtlich verletzt oder augenscheinlich unversehrt. Nie zieht sich eine Frau komplett aus, sondern sie macht immer nur Teile ihres Körpers frei. So fällt das Prozedere leichter, sagt Häni. Leicht ist es allerdings nie.