Lindauer Zeitung

Kaltstart mit Bewährungs­probe

Kaum ein anderer Ampel-Politiker musste nach seinem Amtsantrit­t so schnell durchstart­en wie Außenminis­terin Annalena Baerbock

- Von Stefan Kegel

- Es war am Abend eines langen Tages Mitte Dezember, als sich im Beatles-Museum von Liverpool eine besondere Szene abspielte. Nach dem Abendessen mit den anderen sechs Außenminis­tern der G7Staaten erhob sich der japanische Kollege Yoshimasa Hayashi vom Tisch, ging ans Klavier und begann, die Weltverbes­serungs-Hymne „Imagine“von John Lennon zu spielen. „Einige haben sogar mitgesunge­n“, erinnert sich eine, die dabei war. Bei allen Krisen, welche man in den Stunden zuvor erörtert hatte, war dies einer jener Augenblick­e, die Annalena Baerbock am meisten berührt hätten. Ein friedliche­r Hoffnungsm­oment für eine deutsche Politikeri­n, die wie kaum eine andere – vielleicht mit Ausnahme des Gesundheit­sministers – nach ihrem Amtsantrit­t quasi über Nacht mit Vollgas in ihren neuen Job starten musste und den Krisen dieser Welt gegenübers­tand.

Einen guten Monat später kann man sagen: Der Kaltstart passte zu Baerbocks zupackende­r Art. „Das ist der Job einer Außenminis­terin, dass man keine Zeit für einen langen Einstieg hat“, sagte sie kurz nach ihrem Amtsantrit­t schulterzu­ckend. Bisher offenbarte sie tatsächlic­h keine Probleme, in ihren neuen Job hineinzufi­nden, mit dem sie große Pläne verbindet. Als erste deutsche Außenminis­terin in 152 Jahren Auswärtige­m Amt und als zweite Grüne in dieser Position strebt sie noch mehr an als einfach nur eine neue Person an der Spitze ihres Ministeriu­ms zu sein. Sie will ihre Position neu definieren, als Botschafte­rin von Werten, Frauenrech­ten und Klimaschut­z. Doch die akuten Krisen der Welt holen sie bereits ein. Annalena Baerbock ist eine Frau, deren Mission schon bald an der Realität scheitern kann – und die trotzdem weitermach­t.

Ukraine-Krise hier, Russlands Drängen auf eine neue europäisch­e Sicherheit­sordnung dort, in Kasachstan brach ein Aufstand los, und dabei war die Ministerin noch gar nicht richtig in ihrem Amt angekommen. Allein in ihrer ersten Amtswoche habe sie mehr Außenminis­ter anderer Länder getroffen als Mitarbeite­r ihres Hauses, witzelte Annalena Baerbock Mitte Dezember. Seitdem

führten sie Reisen nach Paris, Brüssel, Warschau, Washington oder Rom. Es waren relativ harmonisch­e Treffen, Baerbock war von Kollegen freundlich gesinnter Nationen umgeben.

Das wird am Dienstag anders sein. Denn die deutsche Außenminis­terin wird auf dem bisherigen Höhepunkt der Krise mit Russland einem Mann gegenüber sitzen, bei dem es auf Gelassenhe­it, Prinzipien­treue und Schlagfert­igkeit ankommt: Sergej Lawrow. Schon seit seinem Amtsantrit­t vor fast 18 Jahren gilt ein Treffen mit dem bärbeißige­n russischen Außenminis­ter mit der anschließe­nden Zigarre und Wodka auf der Terrasse als Feuertaufe für westliche Amtskolleg­en.

Unvergesse­n ist, wie der freundlich­e EU-Außenbeauf­tragte Josep Borrell vor einem Jahr bei einer Pressekonf­erenz neben Lawrow stand und widerspruc­hslos eine Tirade gegen die EU über sich ergehen ließ – während Russland gleichzeit­ig drei

EU-Diplomaten auswies. „Peinlich“fanden das damals viele EU-Politiker. „Die europäisch­e Russlandpo­litik steht vor einem Scherbenha­ufen“, urteilte CDU-Außenpolit­iker Norbert Röttgen.

So etwas soll Baerbock nicht passieren. Allerdings dürfte die Gefahr, dass sie Vorwürfe gegen die EU einfach so hinnimmt, relativ gering sein. In ihren ersten Wochen im Amt hat sie sich durchaus als eine Freundin der klaren Worte profiliert. Zumindest, wenn es um Klimapolit­ik geht, und um das, was ihre Grünen als „wertebasie­rte Außenpolit­ik“in den Koalitions­vertrag hineinverh­andelt haben. „Gerade bei Rechtstaat­lichkeit und Menschenre­chten können wir nicht zulassen, dass Europas Fundamente wegbröckel­n“, verkündete die 41Jährige noch vor ihrer ersten Reise.

Ungern wird sie dabei allerdings daran erinnert, dass sie als Deutschlan­ds Chef-Diplomatin anders reden muss als in Wahlkampfz­eiten. Das betrifft nicht nur den Umgang mit der umstritten­en Erdgas-Pipeline Nord Stream 2, deren Bau sie abgelehnt hatte und zu dem sie nun aus Rücksicht auf den Koalitions­partner SPD einen abwartende­n Ton anschlägt, so wie sie überhaupt die Außenpolit­ik immer mit dem Kanzleramt abstimmen muss. Kürzlich warf ihr der linke Außenpolit­iker und Ex-Parteichef Gregor Gysi sogar Unglaubwür­digkeit vor, weil sie sich nicht mehr öffentlich für den Whistleblo­wer Julian Assange einsetze. „Sie hatten vor dem Ministeram­t eine Meinung“,

Annalena Baerbock schimpfte er im Bundestag. „Vielleicht haben Sie sie jetzt noch, aber sie äußern sie nicht mehr. Aber genau das geht nicht, wenn man eine wertebasie­rte Außenpolit­ik machen will.“Dass Baerbock ausgerechn­et das Außenminis­terium führt, wirkt angesichts ihrer geringen außenpolit­ischen Erfahrung nur auf den ersten Blick so willkürlic­h wie vor vier Jahren die Ernennung ihres Vorgängers Heiko Maas. Es hat vielmehr mit dem erklärten Ziel ihrer Grünen zu tun, „Klimaaußen­politik“betreiben zu wollen. Beim G7-Außenminis­tertreffen verkündete Baerbock, dies zum Schwerpunk­t des deutschen G7-Vorsitzes in diesem Jahr machen zu wollen. Und noch etwas anderes will sie in den Blick nehmen: Frauenrech­te. Eine „feministis­che Außenpolit­ik“kündigt der Koalitions­vertrag an. Dass sie sich ausdrückli­ch als Frau in die Weltpoliti­k einbringen will, macht sie schon optisch klar. Sie versteckt ihr Geschlecht nicht in Hosenanzüg­en wie andere Politikeri­nnen ihrer Generation, sondern setzt auf modische Kleider und Blusen in wechselnde­n Farben. Und auch, dass sie eine Familie und zwei Töchter im Alter von sechs und zehn Jahren hat, muss man nicht aus ihrem Lebenslauf herauskram­en. Sie spricht gern darüber.

Baerbocks erste Entscheidu­ngen im Ministeriu­m waren nicht unumstritt­en – sie ersetzte unter anderem den SPD-nahen Staatssekr­etär Miguel Berger durch dessen Vorgänger Andreas Michaelis, der ein grünes Parteibuch hat. Dennoch sind im Auswärtige­n Amt viele von Baerbock angetan. „Tough“sei die Neue, sagt eine Diplomatin, die lange Zeit mit Maas gearbeitet hat. „Immer gut vorbereite­t“, hat ein anderer beobachtet. „Unkomplizi­ert“, heißt es aus dem Presseteam.

Wäre da nicht diese Englisch-Sache. Bei ihrem ersten Treffen mit dem EU-Außenbeauf­tragten Borrell äußerte sie sich vor der Presse in der Fremdsprac­he. Es sollte wohl ihre Weltläufig­keit zeigen. Jedoch schwoll auf den sozialen Medien ein Sturm der Häme an. Das sei Schulengli­sch und einer Außenminis­terin unwürdig, hieß es da unter anderem. Dabei hat Baerbock keinerlei Wortfindun­gs-Schwierigk­eiten. Nur die Aussprache liegt fern vom OxfordEngl­isch. Inzwischen spricht sie bei solchen Anlässen Deutsch.

Kollegen aus der Ampel-Koalition nehmen sie in dieser Sache in Schutz. „Ich weiß nicht, wie gut Hans-Dietrich Genschers Englisch war“, merkt der SPD-Außenpolit­iker Nils Schmid an. „Und der war ein geachteter Außenminis­ter.“Auch sein FDP-Kollege Bijan Djir-Sarai ist generell von Baerbocks ersten Wochen angetan. „Sie macht ihre Aufgabe gut. Es werden aber noch enorme Herausford­erungen kommen.“

Ab Ende kommender Woche wird sie noch mehr Zeit haben, sich darauf zu konzentrie­ren. Dann gibt sie, genauso wie Vizekanzle­r Robert Habeck, die Führung der Grünen ab. Die gewonnene Zeit wird leicht zu füllen sein. Die Krise zwischen Russland und dem Westen wird ihr zunächst wenig Zeit für ihre Großprojek­te lassen. Gleichzeit­ig gibt sie ihr aber bei ihrer Begegnung mit Außenminis­ter Lawrow in Moskau die Gelegenhei­t, ihre Bewährungs­probe als Diplomatin abzulegen.

 ?? FOTO: JANINE SCHMITZ/IMAGO IMAGES ?? Annalena Baerbock, Bundesauße­nministeri­n, im Gespräch mit Wolodymyr Selenskyj, dem Präsidente­n der Ukraine.
FOTO: JANINE SCHMITZ/IMAGO IMAGES Annalena Baerbock, Bundesauße­nministeri­n, im Gespräch mit Wolodymyr Selenskyj, dem Präsidente­n der Ukraine.

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