Freispruch für Tolu kann Haftzeit nicht wiedergutmachen
Urteil fast fünf Jahre nach Festnahme in Istanbul – Ulmer Journalistin saß monatelang in türkischem Gefängnis
- Vier Jahre, acht Monate und 20 Tage: Mesale Tolu hat seit ihrer Festnahme in Istanbul im Jahr 2017 jeden Tag mitgezählt. Am Montag schickte die Ulmerin von Deutschland aus per Twitter die genaue Länge ihrer Leidenszeit in die Welt, versehen mit der erleichterten Botschaft: „Freispruch in beiden Anklagepunkten!“Wenige Minuten zuvor hatte das zuständige Gericht am Bosporus im Prozess gegen sie und mehr als 20 weitere Angeklagte das Urteil verkündet. Tolus Ehemann Suat Corlu und die meisten anderen Angeklagten wurden ebenfalls freigesprochen, vier Beschuldigte erhielten jedoch Haftstrafen. Trotz des Freispruchs für Tolu warfen Kritiker der türkischen Justiz vor, mit der Inhaftierung von Bundesbürgern ein „makabres Spiel“zu treiben.
Das Urteil fiel am 17. Prozesstag in dem mehr als dreijährigen Verfahren. Die Anklage vor der 29. Schwurgerichtskammer in Istanbul gegen die heute 38-jährige Tolu bezog sich auf ihre Übersetzungsarbeit für die linke Nachrichtenagentur Etha und lautete auf Verbreitung von Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Bei einer Verurteilung hätten Tolu bis zu 20 Jahre Haft gedroht.
Tolu sagte nach dem Richterspruch: „Erleichtert bin ich insbesondere deshalb, weil dieser absurde Prozess nun ein Ende hat. In einem Rechtsstaat wäre es nie zu solch einem Verfahren gekommen.“. Freuen könne sie sich jedoch nicht. „Dieses Urteil kann all die Repressionen und die Zeit in der Haft nicht wiedergutmachen. Es sind weiterhin Dutzende
Journalistinnen und Journalisten und Menschenrechtsaktivisten in der Türkei im Gefängnis, nun ist es wichtig, sich für sie ebenso stark zu machen.“
Tolus Anwalt Keles Öztürk sagte der „Schwäbische Zeitung“, wie Tolu und ihr Mann seien die meisten anderen Angeklagten freigesprochen worden. Tolu war im April 2017 in ihrer Istanbuler Wohnung festgenommen worden. Sie verbrachte rund acht Monate in Untersuchungshaft, zeitweise lebte ihr damals zweijähriger Sohn Serkan mit ihr im Gefängnis. Als sie Anfang 2018 aus der Haft entlassen wurde, durfte sie vorerst nicht nach Deutschland zurückkehren. Zusammen mit ihrem ebenfalls angeklagten Mann bemühte sie sich darum, ihrem von der Festnahme und der Haft traumatisierten Kind neue Sicherheit zu geben. Leicht war das in der Türkei nicht: Kurz nach Tolus Haftentlassung stürmte die Polizei erneut die Wohnung der Familie und nahm ihren Mann zu einem mehrtägigen Verhör mit.
Erst im August 2018 konnte Tolu die Türkei verlassen und nach Deutschland zurückkehren, während in Istanbul der Prozess gegen sie, ihren Mann und die anderen Angeklagten weiterging. Sie absolvierte ein Volontariat bei der „Schwäbischen Zeitung“, bei der sie heute als Redakteurin arbeitet. Tolu ist Tochter türkischer Einwanderer und besitzt ausschließlich die deutsche Staatsbürgerschaft.
Weil auch die Staatsanwaltschaft in der Endphase des Istanbuler Verfahrens auf Freispruch plädiert hatte, war das Urteil vom Montag keine Überraschung. Christian Mihr, Geschäftsführer der Journalistenorganisation Reporter Ohne Grenzen in Deutschland, kommentierte nach der Teilnahme an der Urteilsverkündung in Istanbul, der Freispruch ändere nichts daran, dass der Prozess „ein Willkürverfahren und ein Beweis für die Nicht-Rechtsstaatlichkeit der Türkei“gewesen sei. Der Deutsche Journalistenverband (DJV) zeigte sich erleichtert und erklärte, er stehe weiterhin in Solidarität mit allen inhaftierten und verfolgten Journalisten in der Türkei. Der Bundestagsabgeordnete Max Lucks (Grüne), der ebenfalls nach Istanbul gereist war, nannte den Prozess ein „erschreckendes Zeugnis über den Zustand der Justiz und der Pressefreiheit in der Türkei“.
Der SPD-Menschenrechtspolitiker Frank Schwabe sagte der „Schwäbischen Zeitung“, die Vorwürfe gegen Tolu seien „von vornherein absurd und inszeniert“gewesen. „Immerhin scheint die türkische Regierung wieder mehr verstehen zu wollen, wie wichtig es der deutschen Seite ist, dass Deutsche aus der Haft freikommen“, fügte er hinzu. „Aber es bleibt ein makabres Spiel, weil immer wieder neue Personen in Haft kommen. Das muss endlich aufhören.“Laut einer Mitteilung der Bundesregierung aus dem vergangenen Jahr werden rund 120 Deutsche in der Türkei festgehalten.
Ein anderes Gericht in Istanbul verlängerte am Montag die Untersuchungshaft für den Kulturförderer Osman Kavala, der seit 2017 ohne Urteil im Gefängnis sitzt. Der Europarat hat wegen der langen Haft für Kavala ein Ausschlussverfahren gegen die Türkei in Gang gesetzt.