Ein jüdischer Notar soll Anne Frank verraten haben
Internationales Ermittlerteam hat fünf Jahre lang nach dem Verbindungsmann zu den Nazis gesucht
(dpa) - Es ist eines der großen Rätsel der Geschichte: Wer verriet Anne Frank? Ein Cold-CaseTeam kommt nun zu einer sehr wahrscheinlichen Antwort. Doch es ist ein Fall voller Tragik.
Das Versteck des jüdischen Mädchens Anne Frank und seiner Familie vor den Nationalsozialisten ist vermutlich von einem Notar verraten worden. Der Mann sei selbst Jude gewesen und habe damit das Leben seiner eigenen Familie retten wollen. Das ist das Ergebnis der langjährigen Untersuchung, die ein internationales Team am Montag in niederländischen Medien präsentierte.
Zwei Jahre lang lebten die Familie Frank und vier weitere Juden im Hinterhaus in Amsterdam im Versteck vor den deutschen Nationalsozialisten. Doch am 4. August 1944 stürmte ein SS-Kommando das Haus. Mehr als fünf Jahre war das internationale Cold-Case-Team (als „cold case“wird ein ungeklärter, also „kalter“Kriminalfall aus der Vergangenheit bezeichnet) nun der Frage nachgegangen: Wie wurde das Versteck an der Prinsengracht 263 bekannt? War es Zufall? War es Verrat?
„Wir haben insgesamt etwa 30 Theorien überprüft“, sagt der Journalist Pieter van Twisk, einer der Leiter der Untersuchung. „Wir können sagen, dass davon 27, 28 sehr unwahrscheinlich bis unmöglich waren.“
Die wahrscheinlichste Antwort ist: Notar Arnold van den Bergh hat den deutschen Besatzern eine Liste mit Verstecken von Juden in Amsterdam übergeben, um seine eigene Familie vor der Deportation zu bewahren. Auf dieser Liste stand eben auch das Hinterhaus, in dem Anne Frank (19291945) ihr heute weltberühmtes Tagebuch geschrieben hat. Alle Hinterhaus-Bewohner wurden in Konzentrationslager deportiert. Anne starb im KZ Bergen Belsen 1945, sie war 15 Jahre alt. Nur Vater Otto überlebte.
Die Untersucher stützen sich vor allem auf die Kopie eines anonymen Briefes, den Otto Frank 1946 bekommen hatte. Darin wird der Name des Notars genannt. Er war damals Mitglied des Jüdischen Rates und zunächst geschützt. Doch 1944 fiel dieser Schutz weg und es drohte ihm, seiner Frau und den drei Töchtern die Deportation. Die Familie überlebte. Keiner der Untersucher will ein Urteil fällen. „Die einzig Schlechten waren die Nazis“, sagt der ehemalige Agent des amerikanischen FBI, Vince Pankoke, der maßgeblich an der Untersuchung beteiligt war, „ohne sie wäre das alles nicht geschehen.“
Auch die Anne Frank-Stiftung warnt vor zu schnellen Schlussfolgerungen. Direktor Ronald Leopold sagte dem Radio-Sender NPO1: „Man muss sehr aufpassen, bevor man jemanden in der Geschichte als Verräter von Anne Frank festschreibt, wenn man nicht zu 100 oder 200 Prozent sicher ist.“Gewissheit gibt es aber 77 Jahre nach Kriegsende noch immer nicht, räumt Ermittler Pankoke ein. „Unsere Theorie hat aber eine Wahrscheinlichkeit von mehr als 85 Prozent.“