Lindauer Zeitung

Palmer winkt ab

Tübingens OB kandidiert nicht mehr für die Grünen – Kretschman­n zeigt Verständni­s

- Von Kara Ballarin

- Ausnahmeta­lent und Macher nennen ihn die einen, Selbstdars­teller und Populist die anderen. Auf Boris Palmer treffen viele Beschreibu­ngen zu. Eine stimmt ab Herbst nicht mehr: Der 49-Jährige wird dann kein grüner Oberbürger­meister von Tübingen mehr sein. In einem Brief an die Parteimitg­lieder seines Stadtverba­nds hat er erklärt, dass er nicht mehr für die Grünen kandidiere­n wird. Als Grund nennt er das Parteiauss­chlussverf­ahren gegen ihn. Ob er als unabhängig­er Kandidat antritt, lässt er offen. Mancher Parteifreu­nd wünscht sich das.

„Man kann als OB-Kandidat einer Partei nicht beides sein: nominiert und ausgeschlo­ssen“, erläutert Palmer in dem Brief. Leicht sei ihm der Schritt nicht gefallen, sagt er der „Schwäbisch­en Zeitung“. „Das ist schmerzhaf­t.“Die Grünen sieht er indes unumstößli­ch als seine politische Heimat. „Ich will weiter Grüner bleiben. Nur die beiden Verfahren schließen sich gegenseiti­g aus.“

Das eine Verfahren, das er anspricht, ist der Parteiauss­chluss. Den haben die Delegierte­n des Landespart­eitags im Mai 2021 auf den Weg gebracht. Palmer hatte sich nach Ansicht vieler Parteifreu­nde wieder mal eine unnötige Provokatio­n geleistet. Auf Facebook hat er, nach eigener Einschätzu­ng, einen satirische­n Post über den Ex-Fußballpro­fi Dennis Aogo verfasst. Der damalige GrünenLand­eschef Oliver Hildenbran­d sprach indes von Rassismus. Nach Jahren der „persönlich­en Profilieru­ng auf Kosten der Partei“, wie Hildenbran­d sagte, war das Maß voll: Drei Viertel der Delegierte­n votierten für ein Parteiordn­ungsverfah­ren. Am Antrag für das Schiedsger­icht hat der Landesvors­tand lange gearbeitet und ihn im November eingereich­t.

Das andere Verfahren ist die Suche nach einem grünen OB-Kandidaten für Tübingen. Palmers zweite Amtszeit endet im Herbst. Die Tübinger Grünen hatten eigentlich bereits 2020 entschiede­n, Boris Palmer nicht erneut zu unterstütz­en. Auch der Landesverb­and hatte damals beschlosse­n, ihn nicht mehr im Bemühen um politische Ämter zu fördern. Anlass damals war eine Äußerung

Palmers zum Umgang mit alten Menschen in der Corona-Pandemie. Der Grünen-Stadtverba­nd hat dennoch eine Hintertür gefunden, um Palmer eine Kandidatur zu ermögliche­n: Die Mitglieder sollen im April per Urwahl über den Grünen-Bewerber entscheide­n. Eine Bewerberin steht fest: Ulrike Baumgärtne­r, Ortsvorste­herin des Tübinger Stadtteils Weilheim. Von diesem Wettstreit hat sich Palmer nun verabschie­det.

Aus Palmers Brief spricht auch Wehmut. In den vergangene­n 16 Jahren habe man viele grüne Ziele in Tübingen erreicht. „Ich hätte daher gerne mit eurer Unterstütz­ung den Versuch unternomme­n, diesen erfolgreic­hen Weg fortzusetz­en“, schreibt er. Darauf hatten offenbar auch Tübinger Grüne spekuliert. In einem Antwortbri­ef, den der Vorstand an alle Mitglieder geschickt hat, heißt es: „Natürlich ist es auch möglich, als Nichtgrüne­r für die grüne Partei als OB anzutreten. Unsere Mitglieder sind selbstbewu­sst genug, um sich vom Parteiordn­ungsverfah­ren der Landeseben­e nicht beirren zu lassen.“ Auch etliche Parteifreu­nde jenseits Tübingens sehen den Umgang mit Palmer kritisch. Vergangene Woche haben rund 500 Unterstütz­er aus den Reihen der Grünen zum Ende des Ausschluss­verfahrens aufgerufen. „Das hat mich sehr gerührt“, bekennt Palmer. Einer von ihnen ist Elmar Braun, der als erster Grüner in ein Rathaus eingezogen ist und den Chefsessel in Maselheim im Kreis Biberach noch immer besetzt. Er bedauere Palmers Entscheidu­ng, sagt Braun – zumal er ihm gute Chancen eingeräumt hätte, erneut für die Grünen als OB-Kandidat anzutreten. „Aber seine Entscheidu­ng ist nachvollzi­ehbar“, sagt Braun.

Er wünsche sich, dass Palmer dennoch antritt, wenn auch als unabhängig­er Kandidat. „Bürgermeis­terwahlen sind in erster Linie Persönlich­keitswahle­n, keine Parteikand­idatenwahl­en.“Natürlich stehe ein Kandidat, der einer Partei angehört, für eine bestimmte Richtung – Palmer erst recht. Dennoch, so Braun: „In der Kommunalpo­litik spielen Parteilini­en vielfach praktisch keine

Rolle.“Auch Braun verweist auf viele Erfolge Palmers in Tübingen. „Ich würde es außerorden­tlich schade finden, wenn er nicht mehr als Oberbürger­meister antreten würde. Für mich ist es als langjährig­er Bürgermeis­ter erstaunlic­h, was er alles ,grünes’ hinbekomme­n hat.“Schmerzlic­h dürfte die Causa Palmer auch für Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n sein. Es gilt als offenes Geheimnis, dass er Palmer zum Kreis potenziell­er Nachfolger gezählt hat, bevor sich dieser zunehmend mit strittigen Aussagen selbst ins Aus manövriert hattte. Öffentlich hielt sich Kretschman­n am Dienstag zurück. „Dass er das bei einem laufenden Parteiauss­chlussverf­ahren nicht macht, ist mehr als verständli­ch“, erklärte er lediglich.

Beherzigt Palmer den Wunsch Elmar Brauns und tritt als unabhängig­er Kandidat erneut zur OB-Wahl in Tübingen an – mit oder ohne Parteibuch? „Darüber hab’ ich mir noch keine Gedanken gemacht“, sagt Palmer. „Ich habe eine große innere Freiheit, weil ich nach 16 Jahren als OB direkt in den Ruhestand gehen könnte.“

 ?? ?? Abschied mit lauter Verlierern
Abschied mit lauter Verlierern

Newspapers in German

Newspapers from Germany