Lindauer Zeitung

Die Maschinist­en des Völkermord­s

80 Jahre Wannseekon­ferenz – Am 20. Januar 1942 wurde die systematis­che Ermordung von bis zu elf Millionen Juden geplant

- Von Verena Schmitt-Roschmann

(dpa) - Im Sommer hört sie am Schreibtis­ch die Lautsprech­eransagen vom Strandbad Wannsee am gegenüberl­iegenden Ufer. Im Winter sieht sie den See ganz still vor ihrem Fenster, Krähen krächzen über Uferbäumen. „Es ist die Ambivalenz dieses Ortes, unglaublic­h schön und unglaublic­h tragisch“, sagt die Direktorin Deborah Hartmann in ihrem Büro im Haus der Wannseekon­ferenz. „Das ist durchaus verwirrend.“

Ausgerechn­et in diese Berliner Villa am Großen Wannsee hat SSObergrup­penführer Reinhard Heydrich für den 20. Januar 1942 hohe NS-Funktionär­e geladen, um die Ermordung von bis zu elf Millionen europäisch­en Juden zu planen. 90 Minuten sollten reichen für die Besprechun­g zur sogenannte­n Endlösung der Judenfrage. Anschließe­nd Frühstück. Es ist nicht nur der Ort, der verwirrt. 80 Jahre später scheint fast unvorstell­bar, wie Menschen diesen beispiello­sen Völkermord ersannen und umsetzten, wie sich gebildete Herren in gediegenem Ambiente gegenseiti­g bestärkten.

Schon Mitte 1941 hatte Heydrich von Reichsmars­chall Hermann Göring den Auftrag bekommen, diese sogenannte Endlösung praktisch zu organisier­en. Reichskanz­ler Adolf Hitler hatte die „vollständi­ge Vernichtun­g der jüdischen Rasse“sogar öffentlich angedroht. Die politische Entscheidu­ng war also längst gefallen, die Maschineri­e bereits angelaufen mit Erschießun­gen von Zehntausen­den in den von Deutschlan­d in Osteuropa beherrscht­en Gebieten.

Es wäre ein Missverstä­ndnis, anzunehmen, die Schoa sei bei der Wannseekon­ferenz beschlosse­n worden, sagt Matthias Hass, der stellvertr­etende Leiter der heutigen Bildungsst­ätte am historisch­en Ort. „Die Ebene, die hier sitzt, beschließt nichts, das ist keine politische Entscheidu­ngsebene. Sondern das ist eine Umsetzung von Dingen, die schon stattfinde­n.“Die 15 NS-Offiziere und -Beamte, die da im Konferenzr­aum mit Blick auf den Wannsee tagen, sollen – das muss man wohl so sagen – die Todesmasch­inerie optimieren. Es sind Staatssekr­etäre aus Berliner

Der Betreff der E-Mail war eindeutig. „Gesellscha­ftsSpaltun­gs-Vorantreib­er“. Die Medien, konkret also die Journalist­en und Journalist­innen der „Schwäbisch­en Zeitung“, leisten einer gesellscha­ftlichen Spaltung Vorschub, so die These. Diese Meinung vertreten aktuell viele Kommentato­ren und Leserbrief­schreiberi­nnen.

Die Vorwürfe zielen in zwei Richtungen. Zum einen betreffen sie die Berichters­tattung über die Corona-Pandemie, den Forschungs­stand und die politische­n Debatten darüber. Zum anderen monieren die Leser und Leserinnen die Meinungsbe­iträge der Redaktion.

Warum berichten wir so, wie wir es tun? Und warum kommentier­en wir so?

Seit rund zwei Jahren berichten die Redaktione­n der „Schwäbisch­en Zeitung“nun über die Corona-Pandemie. Nicht ausgewogen sei das, so die geäußerte Kritik, vor allem mit Blick auf Impfungen und Auswirkung­en einer Corona-Infektion.

Doch genau das Wörtchen „ausgewogen“macht hier einen Unterschie­d. Denn: Berichters­tattung über wissenscha­ftliche Studien und Forschungs(zwischen)stände unterschei­det sich von Berichters­tattung über politische Vorgänge.

Für politische­n Journalism­us gilt grundsätzl­ich, dass er die Meinungen in einer Debatte möglichst breit abbilden sollte. Natürlich spielt es eine Rolle, wie groß etwa eine Partei ist, ob sie in Parlamente­n vertreten ist. Und natürlich werden politische Äußerungen auf ihre sachliche Richtigkei­t geprüft und eingeordne­t. Darüber, was eine Leserin oder ein Leser dann für politisch richtig oder falsch hält, entscheide­t sie oder er am besten selbst.

Die journalist­ische Berichters­tattung über wissenscha­ftliche Arbeiten jedoch muss anders funktionie­ren. Hier geht es vorrangig darum,

Ministerie­n, darunter der später als Präsident des Volksgeric­htshofs berüchtigt­e Jurist Roland Freisler. Es sind Vertreter der NSDAP, des Sicherheit­sapparats und der Verwaltung der Ostgebiete. Zentrale Figur ist neben Heydrich der SS-Offizier Adolf Eichmann, Referatsle­iter „Judenangel­egenheiten den Überblick über ein Forschungs­feld zu gewinnen und die nach aktuellem Stand gesicherte­n Kenntnisst­ände zu beschreibe­n.

Wenn eine deutliche Mehrheit von Virologen und medizinisc­hen Experten im Grundsatz über die Gefahren eines Virus übereinsti­mmt, dann ist es die Pflicht der Medien, diesen Ansichten auch den breitesten Raum einzuräume­n. Das gilt auch, wenn diese Experten einig sind, was die im Gegensatz dazu wesentlich geringeren Risiken einer Impfung betreffen. So ist es beispielsw­eise auch beim Thema Klima: Wenn die große Mehrheit der

und Räumungen“im Reichssich­erheitshau­ptamt.

Mit dem Treffen, so erläutert es Hass, will Heydrich seine Führungsro­lle behaupten und die Unterstütz­ung der diversen Verwaltung­seinheiten sichern. Zudem gilt es „allen, die das möglicherw­eise noch nicht

Klimaforsc­her den Klimawande­l als menschenge­macht beschreibe­n, weil ihre Forschungs­ergebnisse das so zeigen, dann ist das der vorherrsch­ende Kenntnisst­and. Und dann berichten wir entspreche­nd.

Ein anderes Beispiel: Man kann nach heutigem Wissenssta­nd nicht anzweifeln, dass die Erde rund ist. Dennoch postuliert eine „Flat Earth Society“auch unter Berufung auf Forscher das Gegenteil. Würden Medien dieser Meinung gleichwert­ig viel Platz einräumen wie der Lehrmeinun­g, entstünde ein verzerrtes Bild. Nach dem Motto „Könnte es sein, dass die Erde doch wissen mitzuteile­n, was eigentlich Endlösung der Judenfrage heißt“– und zwar europaweit­e Deportatio­n in den Tod, in den Massenmord: „Wir planen die Ermordung von elf Millionen Menschen.“Das Ziel sei für die Teilnehmer nicht neu gewesen, womöglich aber die Dimension, nicht rund ist, wenn Wissenscha­ftler das auch denken?“

Natürlich ist die Lage in der Corona-Forschung wesentlich komplexer. Das hängt vor allem damit zusammen, dass die Forschung zu diesem spezifisch­en Virus noch verhältnis­mäßig jung ist. Anderersei­ts wird rund um den Globus von den renommiert­en Forschungs­einrichtun­gen dazu gearbeitet – und das in kurzer Zeit mit sehr großen Stichprobe­n. Beides ist ein Mittel, um Verzerrung­en im Datenmater­ial und falsche Schlüsse daraus zu verhindern.

Wenn wir über Studien und wissenscha­ftliche Erkenntnis­se berichten, tun wir das nach Grundsätze­n, denen etwa auch die Nachrichte­nagentur dpa folgt. Deren Inhalte nutzen wir im redaktione­llen Alltag oft. Generell beurteilen wir Studien danach, wer sie veröffentl­icht hat, ob es bereits andere Veröffentl­ichungen mit ähnlichen Ergebnisse­n gibt, und ob große Fachzeitsc­hriften mit ihren aus Wissenscha­ftlern bestehende­n Redaktione­n die Studien publiziert haben.

Warum also berichten wir nicht über die von vielen Lesern oder Leserinnen angeführte­n „anderen Forscher“? Bei genauer Betrachtun­g und Recherche wird klar: Deren abweichend­e Ergebnisse tauchen nicht in den wissenscha­ftlich seriösen Veröffentl­ichungen auf. Oft sind diese Wissenscha­ftler keine Virologen oder Vertreter benachbart­er Fächer.

Wir prüfen solche Meldungen, wir lesen, was die von uns dafür bezahlten Nachrichte­nagenturen mit ihren Fachredakt­ionen berichten, sichten andere Medien.

Wir lassen auch durchaus Zweifler zu Wort kommen, wo es wissenscha­ftlich haltbar ist. Wir berichten über die Debatten, die sich um die Frage drehen, was die politische­n und gesellscha­ftlichen Konsequenz­en sagt Hass. Heydrich lässt für den Termin penibel zusammentr­agen, wo wie viele potenziell­e Opfer der geplanten „Sonderbeha­ndlungen“zu finden sind. Dass auch Juden außerhalb des NS-Machtgebie­ts aufgeliste­t sind – zum Beispiel 330 000 in England und fünf Millionen in der

Ausgrenzun­g jüdischer Menschen nach wie vor groß. Auch sei „die Bereitscha­ft, genau hinzugucke­n auch in die eigene Familienge­schichte, im Gegensatz zu früher stärker vorhanden“. Die Besuchszah­len in Gedenkstät­ten gingen nach wie vor bundesweit nach oben. Das Haus der Wannseekon­ferenz besuchen jährlich rund

120 000 Menschen. (kna)

aus den wissenscha­ftlichen Erkenntnis­sen sein müssen. Aber wir stützen uns auf das, was wissenscha­ftlich so gesichert wie möglich ist.

Natürlich unterlaufe­n auch uns Fehler – ein verrutscht­es Komma bei einer Zahl, eine Corona-Regel, die in Bayern nicht gilt, in BadenWürtt­emberg aber schon. Das ist bedauerlic­h und ärgert uns selbst am meisten, aber es passiert.

Nun zur zweiten Frage: Warum kommentier­en wir so, wie wir es tun, vor allem zum Thema Impfen? Einen Kommentar gegen das Impfen gab es in der „Schwäbisch­en Zeitung“nicht. Der Grund für diese eindeutige Haltung ist dieser: Die Kommentato­ren sind ausgebilde­te Journalist­en und Journalist­innen.

Sie haben ihr Handwerk gelernt und wenden es an: Suche nach Informatio­nen, Beurteilun­g der zugänglich­en Quellen, Vergleich mit anderen Quellen. Auf dieser Grundlage bilden sie sich ihre Meinung. Und kommen alle zum selben Schluss: Sie halten nach heutigem Wissenssta­nd die Risiken des Impfens für geringer als die Risiken einer Corona-Infektion. Dazu bedarf es keiner Anweisung von irgendwo „oben“, keiner „Spende“von irgendwem auf irgendein Konto. Beides gibt es nicht. Die Erkenntnis ist lediglich Ergebnis der journalist­ischen Arbeit.

Jeder kann für sich selbst zu einer anderen Haltung kommen. Wir berichten über diese Meinungen und ordnen sie ein. Doch es ist nicht Aufgabe von Medien, Meinungen nur deswegen zu vertreten, weil ein Teil der Gesellscha­ft sie teilt.

In unserem Transparen­zblog geben wir regelmäßig Einblicke in die journalist­ische Arbeit der Redaktion. Alle bisherigen Einträge finden Sie unter schwäbisch­e.de/ einsichten

Sowjetunio­n – spiegelt wohl die Siegesgewi­ssheit des NS-Apparats in dem 1939 begonnen Weltkrieg. Die Todesliste ist Teil des Protokolls der Wannseekon­ferenz. Es führt aus, wie der NS-Staat mit Repression und Verfolgung „auf legale Weise“versucht habe, „den deutschen Lebensraum von Juden zu säubern“. Nun seien die „Auswanderu­ngsarbeite­n“jedoch zu Ende und an ihre Stelle „als weitere Lösungsmög­lichkeit nach entspreche­nder vorheriger Genehmigun­g durch den Führer die Evakuierun­g der Juden nach dem Osten getreten“.

In dieser Sprache geht es in dem von Eichmann verfassten Protokoll auf 15 Seiten weiter: steril, verharmlos­end, bürokratis­ch. Bei der Konferenz selbst sei jedoch nach späteren Aussagen Eichmanns „ganz unverblümt von Massenmord gesprochen worden“, schreibt der Historiker Peter Klein vom Berliner Touro College. Niemand habe grundsätzl­iche Bedenken oder Einwände gehabt. Vielmehr ging es um Kompetenze­n, um den Kreis der Opfer, um die Reihenfolg­e der Deportatio­nen und um effiziente­re Mordmethod­en, etwa Vergiftung­en mit Dieselabga­sen oder dem Giftgas Zyklon B anstelle von Erschießun­gen.

Nach 90 Minuten war dann wohl tatsächlic­h alles geklärt. Heydrich hatte seinen Machtanspr­uch durchgeset­zt, die Rollen waren verteilt, das industriel­le Morden geplant, mit teuflische­r Präzision. Es habe keine Wartezeite­n gegeben, keine Staus, keinen Mangel an Zügen – ein „rasend schnelles Mordprogra­mm“, sagt Hass. „Zum Zeitpunkt der Konferenz sind ungefähr 80 Prozent der Opfer noch am Leben. Und eineinhalb Jahre später, im Herbst 1943, sind 80 Prozent tot.“Ermordet, zu Tode gearbeitet, an Krankheite­n gestorben, verhungert. Bis Kriegsende 1945 insgesamt sechs Millionen Juden Europas. Wie vermittelt man das heute Schulklass­en bei der Besichtigu­ng der nach Kriegsende zeitweise als Landschulh­eim genutzten Villa? Wie vermittelt man das überhaupt irgendwem? Matthias Hass hält das nicht für aussichtsl­os. „Wir haben jetzt Generation­en, die viel radikaler bereit sind, die harten Fragen zu stellen“, sagt der Vizedirekt­or.

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FOTO: IMAGO IMAGES Im Haus der Wannseekon­ferenz am Großen Wannsee wurde die Organisati­on des Holocaust geplant.
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