Sehnsucht nach Wende im Stall und auf dem Feld
Landwirtschaftsminister Özdemir und Umweltministerin Lemke kündigen neue Agrarpolitik an – Vieles unklar
- Gegessen wird zu Hause. So könnte zum zweiten Mal das Motto der Internationalen Grünen Woche lauten, die traditionell Anfang des Jahres in der Hauptstadt begangen wird. Denn auch in diesem Jahr findet das Stelldichein der Agrarund Ernährungswirtschaft nur digital statt. Die übliche kulinarische Weltreise in den Berliner Messehallen fällt der Pandemie zum Opfer. Dabei gibt es reichlich Themen für kontroverse Diskussionen über die Branche. Dafür hat nicht zuletzt der Wahlausgang gesorgt. Mit dem grünen Landwirtschaftsminister Cem Özdemir und dessen Parteifreundin Steffi Lemke im Umweltministerium sind die beiden Schlüsselministerien für das Thema in der Hand der Grünen. Je nach Sichtweise sorgt dies für Hoffnung oder Besorgnis.
„Wir wollen eine Neuausrichtung der Landwirtschaft“, betonte Lemke zu Beginn des Agrarkongresses zur Messe und schlug gleich ein paar Pfosten dazu ein. Mit einem „Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz“will sie den Arten- wie den Klimaschutz voranbringen. 48 Millionen Euro gibt es zum Beispiel für Pilotprojekte zum Schutz der Moore. Im Allgäu, in Schleswig-Holstein, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern sollen große Moorregionen wieder benässt und neue Bewirtschaftungsformen erprobt werden.
Das Wiedervernässen von landwirtschaftlich genutzten Moorböden gilt als wichtiger Baustein im Kampf gegen den Klimawandel. So machten entwässerte Moorböden im Jahr 2019 mit circa 53 Millionen Tonnen Treibhausgasen fast sieben Prozent aller Emissionen in Deutschland aus.
Im Vergleich zu den großen Brocken in der Landwirtschaftspolitik ist das Kleinkram. Anders sieht es schon bei dem Vorhaben aus, den Einsatz von Pestiziden zu begrenzen und das Pflanzengift Glyphosat bis Ende nächsten Jahres vom Markt zu nehmen. Lemke rechnet allerdings damit, eine Mehrheit der EU-Mitgliedsländer davon überzeugen zu können. Doch selbst in ihrer eigenen Koalition ist diese Position umstritten.
Der agrarpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Gero Hocker, sagte am Dienstag, auch in Zukunft müssten chemische Pflanzenschutzmittel eingesetzt werden können, wo sie erforderlich seien. „Mit ständigen Drohungen von fachlich zweifelhaften Ordnungsrechtsverschärfungen und Produktionseinschränkungen“werde die Koalition ihrem Ziel von mehr Nachhaltigkeit und gleichzeitig dem Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft nicht gerecht. „Es ist gut, dass Umweltministerin Lemke betont, Landwirte auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit mitnehmen zu wollen“, sagte
Das Agrar-Bündnis „Wir haben es satt“will auch in diesem Jahr in Berlin für einen Systemwechsel in der Landwirtschaft demonstrieren. Bis zu 30 Traktoren sollen am kommenden Samstag durch das Regierungsviertel fahren, wie das Bündnis am Dienstag mitteilte. „Die vergangenen 16 Jahre Agrarpolitik waren geprägt von Stillstand und Reformstau“, sagte Martin Hofstetter, Agrarexperte bei der Umweltorganisation Greenpeace, am Dienstag bei der Vorstellung der Pläne für das kommende Wochenende. Ottmar Ilchmann
Hocker. Allerdings sei keinem Landwirt daran gelegen, Pflanzenschutzmittel unnötig einzusetzen, betonte Hocker. „Sie sichern global Ernten und bekämpfen Hunger.“
Schwierig wird es für Lemke auch in Brüssel, weil sie Strafzahlungen abwenden soll, die bei einem Vertragsverletzungsverfahren drohen. Denn es werden in Deutschland noch zu viele Nitrate von der Landwirtschaft in die Böden geleitet. Diese
von der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft kritisierte eine „Klientelpolitik“, die an den Interessen der bäuerlichen Betriebe vorbeigehe. „Wir brauchen keine kosmetischen Veränderungen, sondern wir brauchen einen Systemwechsel.“
Hauptkritikpunkte des Bündnisses sind die Marktmacht der großen Einzelhandelsketten mit Preisen, die die Produktionskosten der Bauern nicht deckten, sowie die Ausrichtung der deutschen und europäischen Agrarindustrie auf den Weltmarkt. (dpa)
Sorge will Lemke nun in Gesprächen mit der Kommission beseitigen.
Ganz große Baustellen hat Özdemir bereits aufgemacht. Er will fast unvereinbare Ziele unter einen Hut bringen. Das Einkommen der Landwirte werde gesichert, gesunde Ernährung vorangebracht und das Tierwohl verbessert, verspricht der Minister. Noch in diesem Jahr will er ein gesetzliches Tierwohllabel einführen. Damit können Verbraucher beim Einkauf schnell erkennen, wie gut es dem Schlachttier zu Lebzeiten ging.
Was sich einfach anhört, hat weitreichende Konsequenzen. Denn mehr Tierwohl gibt es nicht zum Nulltarif. Auf vier Milliarden Euro im Jahr beziffert Bauernpräsident Joachim Rukwied die Kosten für bessere Haltungsformen. Woher das Geld kommen soll, lässt Özdemir noch offen. Auf dem Tisch liegt der Vorschlag der sogenannten Borchert-Kommission, die eine Abgabe von 40 Cent pro Kilogramm Fleisch forderte. Den Vorwurf, dass ein Preisaufschlag sozial ungerecht sei, weist Özdemir zurück. „Soziale Gerechtigkeit bezieht sich auch auf die, die in der Fleischindustrie arbeiten“, betont er.
Über den Umbau der Landwirtschaft zu einer naturnäheren und klimaschonenden Wirtschaftsweise hätte es noch vor wenigen Jahren heftige ideologische Debatten gegeben. Stattdessen suchen die einstigen Gegner, Umweltverbände und Agrarlobby, den Konsens – etwa in der Zukunftskommission Landwirtschaft, in der sich alle Beteiligten an einen Tisch setzen. Der Chef des Umweltbundesamtes (UBA), Dirk Messner, sieht deshalb gute Chancen, dass die Transformation der Landwirtschaft unter der Ampel vorankommt, wenn alle mitziehen. „Wir brauchen ein Zielsystem, dem jeder zustimmen kann“, fordert Messner.
Ob die zur Schau getragene Aufbruchstimmung trägt, wird sich womöglich schon an diesem Mittwoch zeigen. Dann äußern sich Bauernverband und Ernährungsindustrie zu ihrer Lage im Jahr 2022. Zumindest von den Herstellern der Nahrungsmittel wird sich Özdemir Kritik gefallen lassen müssen. Denn seine Ankündigung, die Industrie zur Reduktion von Salz, Zucker oder Fetten in Fertigwaren zu zwingen, stößt auf den Widerstand der Branche. Die Unternehmen wollen sich ihre Rezepturen nicht vorschreiben lassen.