Lindauer Zeitung

Sehnsucht nach Wende im Stall und auf dem Feld

Landwirtsc­haftsminis­ter Özdemir und Umweltmini­sterin Lemke kündigen neue Agrarpolit­ik an – Vieles unklar

- Von Wolfgang Mulke

- Gegessen wird zu Hause. So könnte zum zweiten Mal das Motto der Internatio­nalen Grünen Woche lauten, die traditione­ll Anfang des Jahres in der Hauptstadt begangen wird. Denn auch in diesem Jahr findet das Stelldiche­in der Agrarund Ernährungs­wirtschaft nur digital statt. Die übliche kulinarisc­he Weltreise in den Berliner Messehalle­n fällt der Pandemie zum Opfer. Dabei gibt es reichlich Themen für kontrovers­e Diskussion­en über die Branche. Dafür hat nicht zuletzt der Wahlausgan­g gesorgt. Mit dem grünen Landwirtsc­haftsminis­ter Cem Özdemir und dessen Parteifreu­ndin Steffi Lemke im Umweltmini­sterium sind die beiden Schlüsselm­inisterien für das Thema in der Hand der Grünen. Je nach Sichtweise sorgt dies für Hoffnung oder Besorgnis.

„Wir wollen eine Neuausrich­tung der Landwirtsc­haft“, betonte Lemke zu Beginn des Agrarkongr­esses zur Messe und schlug gleich ein paar Pfosten dazu ein. Mit einem „Aktionspro­gramm Natürliche­r Klimaschut­z“will sie den Arten- wie den Klimaschut­z voranbring­en. 48 Millionen Euro gibt es zum Beispiel für Pilotproje­kte zum Schutz der Moore. Im Allgäu, in Schleswig-Holstein, Brandenbur­g und Mecklenbur­g-Vorpommern sollen große Moorregion­en wieder benässt und neue Bewirtscha­ftungsform­en erprobt werden.

Das Wiedervern­ässen von landwirtsc­haftlich genutzten Moorböden gilt als wichtiger Baustein im Kampf gegen den Klimawande­l. So machten entwässert­e Moorböden im Jahr 2019 mit circa 53 Millionen Tonnen Treibhausg­asen fast sieben Prozent aller Emissionen in Deutschlan­d aus.

Im Vergleich zu den großen Brocken in der Landwirtsc­haftspolit­ik ist das Kleinkram. Anders sieht es schon bei dem Vorhaben aus, den Einsatz von Pestiziden zu begrenzen und das Pflanzengi­ft Glyphosat bis Ende nächsten Jahres vom Markt zu nehmen. Lemke rechnet allerdings damit, eine Mehrheit der EU-Mitgliedsl­änder davon überzeugen zu können. Doch selbst in ihrer eigenen Koalition ist diese Position umstritten.

Der agrarpolit­ische Sprecher der FDP-Bundestags­fraktion, Gero Hocker, sagte am Dienstag, auch in Zukunft müssten chemische Pflanzensc­hutzmittel eingesetzt werden können, wo sie erforderli­ch seien. „Mit ständigen Drohungen von fachlich zweifelhaf­ten Ordnungsre­chtsversch­ärfungen und Produktion­seinschrän­kungen“werde die Koalition ihrem Ziel von mehr Nachhaltig­keit und gleichzeit­ig dem Erhalt der Wettbewerb­sfähigkeit der Landwirtsc­haft nicht gerecht. „Es ist gut, dass Umweltmini­sterin Lemke betont, Landwirte auf dem Weg zu mehr Nachhaltig­keit mitnehmen zu wollen“, sagte

Das Agrar-Bündnis „Wir haben es satt“will auch in diesem Jahr in Berlin für einen Systemwech­sel in der Landwirtsc­haft demonstrie­ren. Bis zu 30 Traktoren sollen am kommenden Samstag durch das Regierungs­viertel fahren, wie das Bündnis am Dienstag mitteilte. „Die vergangene­n 16 Jahre Agrarpolit­ik waren geprägt von Stillstand und Reformstau“, sagte Martin Hofstetter, Agrarexper­te bei der Umweltorga­nisation Greenpeace, am Dienstag bei der Vorstellun­g der Pläne für das kommende Wochenende. Ottmar Ilchmann

Hocker. Allerdings sei keinem Landwirt daran gelegen, Pflanzensc­hutzmittel unnötig einzusetze­n, betonte Hocker. „Sie sichern global Ernten und bekämpfen Hunger.“

Schwierig wird es für Lemke auch in Brüssel, weil sie Strafzahlu­ngen abwenden soll, die bei einem Vertragsve­rletzungsv­erfahren drohen. Denn es werden in Deutschlan­d noch zu viele Nitrate von der Landwirtsc­haft in die Böden geleitet. Diese

von der Arbeitsgem­einschaft bäuerliche Landwirtsc­haft kritisiert­e eine „Klientelpo­litik“, die an den Interessen der bäuerliche­n Betriebe vorbeigehe. „Wir brauchen keine kosmetisch­en Veränderun­gen, sondern wir brauchen einen Systemwech­sel.“

Hauptkriti­kpunkte des Bündnisses sind die Marktmacht der großen Einzelhand­elsketten mit Preisen, die die Produktion­skosten der Bauern nicht deckten, sowie die Ausrichtun­g der deutschen und europäisch­en Agrarindus­trie auf den Weltmarkt. (dpa)

Sorge will Lemke nun in Gesprächen mit der Kommission beseitigen.

Ganz große Baustellen hat Özdemir bereits aufgemacht. Er will fast unvereinba­re Ziele unter einen Hut bringen. Das Einkommen der Landwirte werde gesichert, gesunde Ernährung vorangebra­cht und das Tierwohl verbessert, verspricht der Minister. Noch in diesem Jahr will er ein gesetzlich­es Tierwohlla­bel einführen. Damit können Verbrauche­r beim Einkauf schnell erkennen, wie gut es dem Schlachtti­er zu Lebzeiten ging.

Was sich einfach anhört, hat weitreiche­nde Konsequenz­en. Denn mehr Tierwohl gibt es nicht zum Nulltarif. Auf vier Milliarden Euro im Jahr beziffert Bauernpräs­ident Joachim Rukwied die Kosten für bessere Haltungsfo­rmen. Woher das Geld kommen soll, lässt Özdemir noch offen. Auf dem Tisch liegt der Vorschlag der sogenannte­n Borchert-Kommission, die eine Abgabe von 40 Cent pro Kilogramm Fleisch forderte. Den Vorwurf, dass ein Preisaufsc­hlag sozial ungerecht sei, weist Özdemir zurück. „Soziale Gerechtigk­eit bezieht sich auch auf die, die in der Fleischind­ustrie arbeiten“, betont er.

Über den Umbau der Landwirtsc­haft zu einer naturnäher­en und klimaschon­enden Wirtschaft­sweise hätte es noch vor wenigen Jahren heftige ideologisc­he Debatten gegeben. Stattdesse­n suchen die einstigen Gegner, Umweltverb­ände und Agrarlobby, den Konsens – etwa in der Zukunftsko­mmission Landwirtsc­haft, in der sich alle Beteiligte­n an einen Tisch setzen. Der Chef des Umweltbund­esamtes (UBA), Dirk Messner, sieht deshalb gute Chancen, dass die Transforma­tion der Landwirtsc­haft unter der Ampel vorankommt, wenn alle mitziehen. „Wir brauchen ein Zielsystem, dem jeder zustimmen kann“, fordert Messner.

Ob die zur Schau getragene Aufbruchst­immung trägt, wird sich womöglich schon an diesem Mittwoch zeigen. Dann äußern sich Bauernverb­and und Ernährungs­industrie zu ihrer Lage im Jahr 2022. Zumindest von den Hersteller­n der Nahrungsmi­ttel wird sich Özdemir Kritik gefallen lassen müssen. Denn seine Ankündigun­g, die Industrie zur Reduktion von Salz, Zucker oder Fetten in Fertigware­n zu zwingen, stößt auf den Widerstand der Branche. Die Unternehme­n wollen sich ihre Rezepturen nicht vorschreib­en lassen.

 ?? FOTO: IMAGO ?? Ein Landwirt spritzt im Frühjahr seinen Getreidebe­stand mit einer Feldspritz­e gegen Blattfleck­enkrankhei­t und Halmbruch: Die grüne Bundesumwe­ltminister­in Steffi Lemke will den Einsatz von Pflanzengi­ften begrenzen, ihr liberaler Koalitions­partner sieht das anders.
FOTO: IMAGO Ein Landwirt spritzt im Frühjahr seinen Getreidebe­stand mit einer Feldspritz­e gegen Blattfleck­enkrankhei­t und Halmbruch: Die grüne Bundesumwe­ltminister­in Steffi Lemke will den Einsatz von Pflanzengi­ften begrenzen, ihr liberaler Koalitions­partner sieht das anders.

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