Fürs Radiohören ins Gefängnis gesteckt
Am 27. Januar ist der Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus
- Es ist eine Nachricht, die heute unvorstellbar klingt. 1942 werden zwei Lindauer verhaftet, weil sie Radio gehört haben. Im Nationalsozialismus war es aber streng verboten, ausländischen Rundfunk zu hören. Der Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar soll an Menschen wie die beiden Lindauer erinnern.
Auf Initiative von Bundespräsident Roman Herzog wurde 1996 der 27. Januar zum deutschen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus erklärt. An diesem Tag im Jahre 1945 hatte die Rote Armee der Sowjetunion das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Opfer des Regimes waren auch zwei Reutiner Arbeiter.
Am 31. August 1942 meldete die Lindauer Ausgabe des Südschwäbischen Tagblattes: „Schwere Zuchthausstrafen. Wegen Abhörens ausländischer Rundfunksender hatten sich vor dem am Samstag in Lindau tagenden Sondergericht München der Rundschleifer Alois Grübel und der Reichsbahngehilfe Ulrich Bürstle, beide von hier, zu verantworten […] Grübel wurde nun zur exemplarischen Strafe von drei Jahren Zuchthaus und zwei Jahren Ehrverlust verurteilt. Bürstle kam mit einem Jahr acht Monaten Zuchthaus davon.“Was war geschehen?
Das NS-Regime war seit seiner Machtübernahme 1933 in Deutschland
auch darauf bedacht, das damals modernste Massenmedium, den Rundfunk, unter seine Kontrolle zu bekommen. Im Sommer 1933 kam der „Volksempfänger“auf den Markt, fünf Jahre später seine verbilligte Version. Das Radiogerät wurde von Reichspropagandaleiter Joseph Goebbels in Auftrag gegeben. Auch gemeinschaftliches öffentliches Radiohören wurde propagiert. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs durch den Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 trat auch die Verordnung in Kraft, dass ab sofort nur noch deutschsprachige Radiosender unter Kontrolle des NSRegimes gehört werden durften.
Die beiden benachbarten Reutiner Arbeiter Bürstle und Grübel hatten sich an diese Bevormundung nicht gehalten. Die Familie des Eisenbahnarbeiters Bürstle besaß einen Philipps-Radio mit drei Röhren, um damit auch das Schweizer Radio Beromünster aus dem Kanton Luzern zu hören. Die Familie des Metallarbeiters Grübel vom EscherWyss-Werk Lindau an der Kemptener Straße (heute Engie) besaß ein Fünf-Röhren-Blaupunktradio. Mit dessen Kurzwellenteil konnten die Hörer auch britische, sowjetische und sogar US-Sender anhören.
Als Nachbarn besuchten sich die Familienväter gelegentlich, um einbis zweimal pro Woche auch ausländische Sender zu hören. Insbesondere, wenn außerordentliche Geschehnisse, wie der Wehrmachtsüberfall 1939 auf Polen, 1940 der Angriff auf Frankreich sowie die Benelux-Staaten und 1941 der Überfall auf die Sowjetunion erfolgten, waren diese Sender eine willkommene Gelegenheit, um der Wahrheit näher zu kommen.
Dabei konnte auch ein als Untermieter bei Bürstles wohnender Arbeiter der Lindauer Dornierwerke gelegentlich mithören. Dieser wiederum fiel bei Gesprächen im Betrieb immer wieder dadurch auf, dass er weit besser über die aktuellen Ereignisse informiert war, als ein Großteil seiner Kolleginnen und Kollegen. Dies führte dazu, dass einer seiner regimetreuen Kollegen ihn als „verdächtig Informierten“bei Lindaus Polizei anzeigte. Daraufhin verhörte die Polizei auch die beiden Arbeiter Bürstle und Grübel. Am 31. Juli 1942 wurden beide auf Anweisung der Staatsanwaltschaft in München verhaftet.
Erschwerend für die beiden Verhafteten kam im Sinne des NS-Regimes hinzu, dass der 1896 geborene Lindauer Ulrich Bürstle, verheirateter Vater von sechs Kindern und im Ersten Weltkrieg drei Jahre lang Soldat, vor der Machtübergabe an die NSDAP Mitglied der SPD gewesen war, diese auch gewählt hatte und Mitglied der linken Gewerkschaft des Deutschen Eisenbahnerverbandes war.
Der im Jahre 1901 in Lindau geborene Alois Grübel, verheirateter Vater von sieben Kindern, war vor der faschistischen Zeit in die KPD sowie die Rote Hilfe eingetreten. Bei seiner Vernehmung nach einer ersten Verhaftung bereits ein Jahr zuvor durch Lindaus Polizei hatte er freimütig bekannt: „Ich gebe zu, dass ich Kommunist war. Meine Auffassung und Gesinnung hat sich nicht viel geändert, denn man hat die Versprechungen den Arbeitern gegenüber nicht gehalten. Es hat immer geheißen, die hohen Gehälter werden herabgesetzt und der Arbeiter bekäme mehr. Das Gegenteil war der Fall. So kam es auch, dass ich ausländische Sender abgehört habe.“
Nach der Verurteilung wegen „Rundfunkverbrechens“im August 1942 kam Bürstle in das Zuchthaus Straubing und Grübel über die JVA Bernau in das Zuchthaus in Amberg. Doch der Fortgang des Weltkriegs erforderte auch auf Seite der deutschen Angreifer immer mehr Todesopfer. Der damit verbundene Druck, neue Arbeitskräfte und Soldaten zu erhalten, führte zur vorübergehenden Unterbrechung des Strafvollzugs für die beiden Arbeiter.
Ulrich Bürstle wurde am 9. Juli 1943 auf den Truppenübungsplatz auf dem Heuberg auf der Schwäbischen Alb zur Wehrmacht eingezogen. Alois Grübel erhielt auf wiederholten Antrag der Geschäftsleitung von Escher-Wyss Lindau ab 24. September 1943 eine Strafunterbrechung, um dort wieder als Metallschleifer zu arbeiten. Diese Genehmigung musste allerdings jedes halbe Jahr erneut beantragt werden.