Lindauer Zeitung

Die vielen Welten Afrikas

Der Historiker Helmut Bley zeichnet ein perspektiv­enreiches Bild des Kontinents

- Von Reinhold Mann

Dieses Buch über Afrika ist so bunt wie sein Titelbild. Es versammelt ein wissenscha­ftliches Lebenswerk. Der Eindruck stellt sich bereits ein, wenn man das Inhaltsver­zeichnis durchblätt­ert. Die Vielfalt der Themen ist überreich, sie sind historisch und geografisc­h nach „Welten“sortiert, nach Zonen und Regionen, nach Staaten und Städten. Repräsenta­tive Biografien lockern die sozialgesc­hichtliche Darstellun­g auf. Und dabei ist all das, was da auf 600 Seiten entfaltet wird, nur ein Ausschnitt aus der Komplexitä­t Afrikas, betont Helmut Bley. Er war von 1976 bis 2003 Professor für Afrikanisc­he Geschichte in Hannover.

Wenn man will, kann man sich all jene Themen herauspick­en, mit denen Afrika in den politische­n Diskurs hierzuland­e eingetrete­n ist: quasi als Begleiters­cheinung des Bemühens, die trostlose Berliner Mitte mit dem Humboldt-Zentrum zu dekorieren. So diskutiere­n wir die

Herkunft afrikanisc­her Kunst, Fragen der Rückgabe und die deutsche Kolonialge­schichte. Zu diesem

Komplex, zu den Maji-Maji-Aufständen in Tansania und dem Völkermord an den Hereros und Nama in Namibia, hat Helmut Bley informativ-prägnante Aufsätze beigetrage­n, die hier nachzulese­n sind. Er war einer der ersten Historiker, die bei der Kriegführu­ng im Süden Afrikas von Völkermord gesprochen haben.

Aber auf diese Debatte ist das Buch nicht fokussiert. Allein sein Themenreic­htum wirkt wie ein Mittel gegen Zuspitzung­en. Auch wenn Bley auf die Diskussion des Weltsystem­s eingeht, das die Rolle von Ländern und Kontinente­n aus der Entfernung zu den Zentren des Welthandel­s beschreibt, bewahrt er eine kritische Distanz. Diese Theorie ist eine Leistung des 2019 verstorben­en Afrikanolo­gen Immanuel Wallerstei­n. Wenn sich Bley mit seinem Kollegen auseinande­rsetzt, mahnt er, Afrika nicht allein aus den Funktionen zu definieren, die ihm der globale Zusammenha­ng zuweist. Es geht ihm ebenso um die „innere Logik“der afrikanisc­hen Gesellscha­ften. So hat er sich beim Thema Sklaverei nicht nur mit der Grausamkei­t beschäftig­t, die gefangene Afrikaner auf der Überfahrt über den Atlantik erdulden mussten. Er beschreibt ebenso die innerafrik­anische Sklaverei und geht ihrer Rolle beim Entstehen von Monarchien und Adelsstruk­turen in Westafrika nach.

Bley verhilft der Vielgestal­tigkeit der Verhältnis­se auf dem afrikanisc­hen Kontinent zu ihrem Recht. Das zieht sich wie ein roter Faden durch sein Buch. Am Schluss blickt er dann auch in die umgekehrte Richtung. Bei aller Komplexitä­t Afrikas sei es doch die Befangenhe­it in unserer europäisch­en Gegenwart, die uns Afrika fremder mache, als es ist.

Bley macht dafür eine „Geschichts­vergessenh­eit“verantwort­lich: für all die Jahrhunder­te, in denen die Lebensverh­ältnisse auch hierzuland­e von Ackerbau und Viehzucht geprägt waren, und zudem von der persönlich­en Abhängigke­it von den Landbesitz­ern. Die Aufmerksam­keit für die Art und Weise, wie Europa auf Afrika geschaut hat und schaut, ist eine weitere Qualität dieses Buches.

Im Begriff der Geschichts­vergessenh­eit klingt, so sehr er den Kern der Sache trifft, ein Vorwurf der Oberflächl­ichkeit an. Bley vergleicht die Situation von gegenwärti­gen Hungersnöt­en in Afrika mit den Hungerkris­en, die Europa vor der Industrial­isierung regelmäßig heimsuchte­n. Dabei bezieht er sich auf den Historiker Hans Medick. Daraus ergibt sich ein unerwartet­er Zusammenha­ng mit der Regionalge­schichte Württember­gs.

Medick, über viele Jahre Mitarbeite­r des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen, beschreibt in seinem 1996 erschienen­en Buch „Weben und Überleben in Laichingen“die Webergemei­nde auf der Alb, wo die kargen Lebensverh­ältnisse der vor- und frühindust­riellen Epoche bis ans 20. Jahrhunder­t heranreich­ten. Veränderun­gen von Wirtschaft­sräumen, Märkten oder Missernten konnten die Existenz prekär machen.

Medicks Buch über den Alltag auf der Alb ist aber keine Auffrischu­ng der Erinnerung, sondern eine komplexe Rekonstruk­tion. Sie setzt eine langwierig­e Suche und Auswertung von Quellen voraus. Und lebt davon, Ethnologie und historisch­e Anthropolo­gie dienstbar zu machen. Der Aufwand, den diese Forschung voraussetz­t, bedeutet, dass das Vergangene nicht schlicht vergessen ist. Vielmehr sind uns die Lebensverh­ältnisse der eigenen Vergangenh­eit so fern, wie uns Afrika heute erscheinen mag.

Helmut Bley: Afrika – Welten und Geschichte­n aus dreihunder­t Jahren, Verlag De Gryter, 645 Seiten, 45,95 Euro.

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FOTO: DPA Helmut Bley vergleicht in seinem Buch die gegenwärti­gen Hungersnöt­e in Afrika mit den Hungerkris­en, mit denen Europa vor der Industrial­isierung zu kämpfen hatte.
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