Lindauer Zeitung

Leben von Straftaten und Drogen bestimmt

24-jähriger Lindauer bedroht seinen Onkel mit einem Messer und muss nicht in Gefängnis

- Von Ronja Straub

- Unzählige Straftaten und eine lange Drogengesc­hichte ziehen sich wie ein roter Faden durch sein junges Leben. Diebstahl in der Schule und Körperverl­etzungen als Jugendlich­er waren der Anfang. Mit 24 Jahren musste sich ein Lindauer wegen versuchten Totschlags vor dem Landgerich­t Kempten verantwort­en. Am Ende wird er nur wegen Bedrohung verurteilt – der Vorsitzend­e will ihm noch eine Chance geben.

Der junge Mann, gerade einmal 24 Jahre alt, darf an diesem Dienstagvo­rmittag im Sitzungssa­al 169 des Landgerich­ts Kempten nicht neben seinem Verteidige­r Platz nehmen. Er muss hinter ihm auf der Bank mit Holzverkle­idung sitzen. Er ist aktuell eigentlich in Haft. An seinen Handgelenk­en liegen Handschell­en. Als er zu Beginn der Verhandlun­g fragt, ob man sie ihm die bitte abnehmen könnte, sagt der Vorsitzend­e Richter: „Wenn sie brav sind“, und gibt den beiden Beamten zu verstehen, dass sie die Fesselung lösen können.

Denn vor Gericht hat der Angeklagte auch schon ein schlechtes Bild abgegeben. Als er sich im Dezember vor dem Kemptener Amtsgerich­t verantwort­en musste, war er wohl eher unangenehm aufgefalle­n, wie es in der Verhandlun­g heißt. Er habe sich in Rage geredet und sei sehr laut geworden. Damals ging es unter anderem um Fahren ohne Führersche­in, vorsätzlic­he Nötigung und in einer anderen Sache um Bedrohung und Freiheitsb­eraubung, Körperverl­etzung und Beleidigun­g.

Vor Gericht zu erscheinen, ist für den jungen Mann nichts Neues. Der Lindauer hat ein langes Vorstrafen­register. Körperverl­etzung, Besitz eines Schlagstoc­ks, der zu den verbotenen Waffen zählt, Fahren ohne Führersche­in und Besitz von Betäubungs­mitteln sind nur ein Teil der Punkte, warum er schon angeklagt und verurteilt wurde. Seit 2012 musste er immer wieder auf der Anklageban­k sitzen und auch schon in den Arrest.

Er neige zur Bagatellis­ierung, sagt der Gutachter Norbert Ormanns von der Klinik für forensisch­e Psychiatri­e und Psychother­apie in Kaufbeuren. Von Ende April bis Mitte August vergangene­n Jahres war der Angeklagte in der Klinik und der Gutachter führte viele Gespräche mit ihm. Der junge Mann sei auf seine Vorstrafen stolz und habe sich darüber gefreut, als „Intensivtä­ter“eingestuft zu werden.

Im Januar vergangene­n Jahres gipfelt alles in einer verhängnis­vollen Tat, die in der Anklagesch­rift so beschriebe­n wird: Nach einer langen Nacht mit Alkohol und Drogen besuchte der 24-Jährige am Morgen Onkel und Tante zum gemeinsame­n Frühstück. Am Tisch mit seinen Verwandten soll es ihm schlecht gegangen sein und er sei ins Badezimmer gegangen, um sich zu übergeben. Zurück am Tisch sei es aber nicht besser geworden. Also sei er wieder ins Bad, um zu würgen. Als der Angeklagte

zurück ins Wohnzimmer kam, wo auch der Onkel war, habe er ein Küchenmess­er in der Hand gehabt und gesagt: „So Schwager, wir bringen das heute hinter uns. Heute erledige ich dich“, wie es in der Anklagesch­rift steht. Mit Schwager ist der angeheirat­ete Onkel gemeint. Dann habe er den Onkel mit dem Messer bedroht.

Um sich zu verteidige­n, habe der Onkel den Esstisch zwischen sich und den Angreifer geschoben und einen Stuhl nach oben gehalten. Der Neffe sei einen bis eineinhalb Meter vor seinem Onkel gestanden und habe mit dem Küchenmess­er in seine Richtung gestochen. Als die Tante einschritt und ihren Neffen zurückhiel­t, sei der Onkel auf den Balkon geflüchtet. Daraufhin sei der Angeklagte samt Messer aus der Wohnung gerannt. Er flüchtete zu Freunden nach Bregenz, dann ging er zurück nach Lindau und wurde von einem Freund aufgegabel­t. Der nahm ihn im Auto mit zu dem Haus seiner Eltern, wo ihn die Polizei abends um halb elf festnahm. Weil er nicht freiwillig aus dem Auto ausstieg, sollen die Polizisten ihre Waffen gezogen und ihn aus dem Auto geholt haben. Dabei soll er die Beamten beleidigt und getreten haben. Die Staatsanwa­ltschaft wirft dem Angeklagte­n versuchten Totschlag, Widerstand und Angriff gegen Vollstreck­ungsbeamte sowie Beleidigun­g vor.

„Er ist unser Lieblingsn­effe“, sagt der Onkel des Angeklagte­n im Zeugenstan­d. Passiert sei ihm an dem Vormittag im Januar nichts, er sei nur fast ohnmächtig geworden. Er habe psychische Probleme und sei seit mehreren Jahren in Behandlung. Die Tat seines Neffen habe er dort aber aufarbeite­n können. Er erinnere sich auch an vieles nicht mehr, aber er wisse, dass sein Neffe das nicht aus bösem Wille getan habe. Den Ablauf der Tat, wie er von der Staatsanwä­ltin vorgelesen worden war, konnte er teilweise bestätigen, teilweise erinnerte er sich nicht. „Wir hatten nie Streit mit ihm und er war sonst nie so aggressiv.“

Das Leben des Angeklagte­n ist seit Jahren von Drogen und Straftaten bestimmt. Aufgewachs­en sei er aber in „stabilen Familienve­rhältnisse­n“, wie der Gutachter es in der Verhandlun­g beschreibt. Weil der Angeklagte vor Gericht nur sehr wenig sagt, übernimmt er die Fragen zu seinem Lebenslauf. Allerdings habe der 24-Jährige von seinen Eltern auch Schläge mit dem Gürtel bekommen. „Er fühlte sich von seiner Familie nicht ausreichen­d unterstütz­t“und habe sich immer mehr zurückgezo­gen.

Einen Schulabsch­luss schafft der Angeklagte nicht. Stattdesse­n fängt er an Drogen zu nehmen und setzt zwei Ausbildung­en in den Sand. Mit 13 Jahren konsumiert er zum ersten Mal Cannabis. Später Kokain, um weniger Stress zu haben. Bald folgen psychoakti­ve Pilze, von denen er eine starke Psychose bekommt. Dann Heroin, Crystal Meth, Spice und Ecstasy. Indem er die Drogen auch weiterverk­auft, finanziert er den eigenen Konsum.

Der Angeklagte habe zwar eine Störung im Suchtberei­ch, so der Gutachter, seine Steuerungs­fähigkeit sei deswegen aber nicht „vollständi­g aufgehoben“. In den Gesprächen mit dem Psychiater sei er aber immer wieder aufgefalle­n, habe sich aggressiv verhalten oder Fragen nicht beantworte­t. Medikament­e, die man ihm verschrieb­en hatte, wollte er nicht nehmen. Seinen Aufenthalt in der Klinik in Kaufbeuren verbrachte er komplett im Überwachun­gszimmer. Durch sein Verhalten habe man „erhebliche Zweifel“am Erfolg einer Therapie in einer Erziehungs­anstalt. „Er müsste sich um 180 Grad drehen“, sagt der Gutachter.

Der Verteidige­r des Angeklagte­n betont immer wieder: „Er will sich ändern. Er ist bereit für eine Therapie.“Bisher habe noch kein richtiger Therapieve­rsuch stattgefun­den. Der Angeklagte hatte nur einzelne Stunden bei einem Arzt in Lindau genommen.

Außerdem führt der Verteidige­r in der Verhandlun­g aus, dass es sich bei dem Angriff auf den Onkel nicht um versuchten Totschlag handeln könne. „Dazu hätte der Angeklagte einen Tötungsvor­satz gebraucht“, sagt er. „Und den hatte er sicher nicht.“Zu jeder Tat gehöre eine Motivation. „Warum soll er seinen Onkel töten wollen?“Außerdem habe er freiwillig den Rücktritt angetreten. „Auch wenn es nichts gab, was ihn am Weitermach­en gehindert hätte.“

Zum Glück des Angeklagte­n sehen das der Vorsitzend­e, die beiden anderen Richter und die zwei Schöffen ähnlich. Es sei kein versuchter Totschlag, sondern eine Bedrohung gegenüber des Onkels gewesen, so der Vorsitzend­e in der Urteilsver­kündung. „Ich denke nicht, dass es ein fehlgeschl­agener Versuch war“, sagt der Vorsitzend­e. „Wenn er auf ihn hätte einstechen wollen, hätte er auf den Balkon gehen und seine Tante wegschiebe­n können.“

Wegen Angriff und Bedrohung verurteilt er den jungen Lindauer zu neun Monaten Freiheitss­trafe und ordnet die Unterbring­ung in einer Erziehungs­anstalt an. Zusammen mit dem Urteil des Amtsgerich­ts wird die Strafe für ihn aber noch weitreiche­nder ausfallen.

„Sie müssen sich jetzt endlich am Riemen reißen, dass so etwas nicht nochmal vorkommt“, wendet sich der Vorsitzend­e Richter direkt an den jungen Mann. „Sonst werden Sie immer wieder eingesperr­t.“Er müsse weg von den Drogen. Damit er dazu eine Chance hat, habe man die Unterbring­ung in einer Erziehungs­anstalt angeordnet. „Sie sind noch total jung. Versuchen Sie, da etwas draus zu machen.“

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FOTO: FABIAN SOMMER/DPA Alkohol und Drogen sind der Grund, warum ein Lindauer auf die schiefe Bahn geraten ist. Jetzt musste er sich wegen einem Messerangr­iff auf seinen Onkel vor dem Landgerich­t in Kempten verantwort­en.

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