„Ich bin nicht geistig behindert“
Florian Köbach gilt seit seiner Kindheit als psychisch eingeschränkt – Das findet er falsch und zieht nun vor Gericht
bei einem Test auf 64. Das sollte sich allerdings im Laufe der Zeit ändern.
Florian und Herbert Köbach finden einst durch eine glückliche Fügung zusammen. Herbert Köbach, ein gelernter Betreuer, hat zu dieser Zeit seinen bereits erwachsenen Sohn durch einen tödlichen Unfall verloren, nicht der einzige Schicksalsschlag in seinem Leben. „Ich wollte aufgeben.“Da eröffnet ihm eine Behördenvertreterin am Telefon: „Wir hätten da jemanden für Sie.“Und dann steht er vor ihm, Florian, sprachlos und verloren, ein rätselhafter Findling, isoliert und ohne Vater aufgewachsen, bei einer Mutter, die als überfordert und schwierig gilt.
Struktur und Halt findet er in der Folge in einer Einrichtung für geistig Behinderte, lernt Zählen,
Erfahrungen sammelt, häufen sich in dem Riesbürger Häuschen auf engstem Raum die Aktenordner an. Vollgestopft mit Behördenkorrespondenz, mit Gutachten, Anträgen, Bescheiden und nicht zuletzt mit den Ergebnissen einer ganzen Reihe an Intelligenztests, die der einst so verwirrt und verloren wirkende Junge seither absolviert hat. Die 64 Punkte konnte er schon lange hinter sich lassen. Nun steht er laut Test bei einem IQ von 89. Und gilt trotzdem als geistig behindert.
Aber ist so etwas überhaupt möglich? Dass jemand seine geistige Behinderung irgendwann hinter sich lässt? „Das ist auf jeden Fall möglich“, sagt Professor Daniel Zimprich, Entwicklungspsychologe an der Universität Ulm. „Insbesondere betrifft dies jene Personen, die eine leichte Intelligenzminderung haben.“Wie weit die Fortschritte letztlich gehen, hänge neben den Ursachen für die Einschränkung von der Förderung des Betroffenen ab. Davon abgesehen, kann die Feststellung einer geistigen Behinderung aber auch von vornherein vage und unzureichend ausfallen.
„Grauzonen ergeben sich aus der Ungenauigkeit der Messung des IQs“, erklärt der Entwicklungspsychologe. So besagt ein IQ von100 nicht, dass dieser exakt bei diesem Wert liegt, sondern innerhalb eines bestimmten Intervalls um 100 herum. „Besonders relevant ist natürlich die ,Grauzone’ um einen IQ von 70 herum, da hieran das Kriterium Intelligenzminderung festgemacht wird.“Und damit das der geistigen Behinderung.
Mit diesem Status ist nicht nur Florian Köbach unzufrieden. So machte der Fall des Nenad M. Schlagzeilen, der bis zu seinem 18. Lebensjahr gegen seinen Willen eine Förderschule besuchen musste. Das Kölner Landgericht stellte fest, dass bei den jährlichen Überprüfungen seines Förderbedarfs hätte auffallen müssen, dass der Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung bei Nenad M. nicht mehr zutrifft. Nach dem Urteil war der inzwischen 21-Jährige froh und erleichtert: „Jetzt ist es offiziell, dass ich nicht geistig behindert bin. Das gibt mir ein Gefühl von Freiheit.“Und Eva Thomas, Vorsitzende des Elternvereins Mittendrin, sagte der „Süddeutschen Zeitung“dazu: „Es gibt auch fragwürdige Diagnosen bei anderen Schwerpunkten, aber bei der geistigen Entwicklung ist eine Fehleinschätzung am gravierendsten.“Nenad M. erhielt wegen verpasster Bildungs- und Berufschancen eine Entschädigung von rund 57 000 Euro.
„Es geht uns nicht ums Geld“, betont Herbert Köbach, der Florian als Betreuer vor dem Sozialgericht Ulm vertreten wird. Es geht, so Köbach, um eine angemessene Förderung. Und vor allem geht es um eine Zuschreibung, die Florian Köbach als Stigma empfindet.
„Ich fühle mich ausgegrenzt“, sagt der 22-Jährige. Im Fußballverein stellt er sich gerne ins Tor, sei aber immer nur zweite, dritte oder keine Wahl, findet nur schwer den Anschluss zu den anderen. Leidenschaftlich gehört er auch zur Freiwilligen Feuerwehr, werde aber allzu oft zu Aufräumarbeiten herangezogen. Und dann ist da noch die Sache mit den Mädchen. „Einmal habe ich eines kennengelernt, sie war schön.“Auch nett und aufgeschlossen war sie zu ihm, bis die Frage im Raum stand: „Was machst du eigentlich?“Und sie von Florians Werdegang erfuhr, von seiner Tätigkeit in einer besonderen Bildungseinrichtung, von seinem Status als geistig Behinderter. Daraufhin nahm sie Abstand von ihm.
Einen nächsten Anlauf für eine Beziehung will Florian Köbach vorerst nicht nehmen, lieber das Gerichtsurteil abwarten, um daraus neuen Mut zu schöpfen. Der 22Jährige weiß auch, dass er trotz seines Selbstbewusstseins in manchen Dingen noch Unterstützung braucht. Dass er zwar klar und deutlich spricht, dass es Spaß macht, sich mit ihm zu unterhalten. Er an manchen Stellen aber noch nach den richtigen Worten sucht. Dass er „kleine Brötchen backen“muss, wie er selber erklärt, nur Stück für Stück vorankommt und jeden Tag dazulernt. „Natürlich ist Florian nicht perfekt“, sagt Herbert Köbach. „Aber wer ist das schon?“
Diese Frage stellt der Gesetzgeber, stellen die Vereinten Nationen schon lange, wie Kerstin Heidecke, Sprecherin bei der Bundesvereinigung Lebenshilfe, dem Verband für Menschen mit geistiger Behinderung, betont: „Die UNBehindertenrechtskonvention hat ja zum Ziel, dass wir für Menschen keine extra Schubladen haben, keine extra Häuser, extra Schulen oder Arbeitsplätze“, so Heidecke. „Sondern dass wir versuchen, die Verschiedenheit, die sich darin zeigt, dass Menschen unterschiedliche Fähigkeiten haben, zu einem Teil der Gesamtgesellschaft machen.“Wie groß und bisweilen gewaltig die Herausforderungen auch sein mögen, die sich dadurch für alle Betroffenen ergeben.
Florian Köbach ist auf alle Fälle bereit, diesen Schritt zu gehen, endlich. „Ich habe keine Lust mehr, Intelligenztests zu machen.“Immer wieder schwarz auf weiß belegen und beweisen zu müssen, dass er kein Sonderfall ist, für den es Sonderregeln braucht. „Am liebsten würde ich mein altes Leben in eine Kiste packen und ein Datum draufschreiben“, sagt er. Nach dem Gerichtsurteil will er eine neue Kiste aufmachen, auf der dann steht: Freundin, Führerschein, Ausbildung, Beruf. Und noch etwas ganz Spezielles, einen lang gehegten Traum, den er sich erfüllen will: „Eines Tages möchte ich fliegen.“Aber nicht mit einem Flugzeug.
In Donauwörth nur unweit seiner Ausbildungsstätte steht das Werk von Airbus Helicopters. „Jeden Tag kann ich sehen, wie die Hubschrauber aufsteigen“, sagt
Florian Köbach. Inzwischen kennt er alle Typen, den H135, den H145M, baut die Maschinen mit den großen Rotorblättern zu Hause als Modelle nach. Aber mal selber im Cockpit sitzen, den Steuerknüppel mit der Hand umschließen und senkrecht in den Himmel abheben – das wär’s doch.
IQ unter 20 Schwerste Intelligenzminderung. Die eigene Versorgung, Kommunikation und Beweglichkeit sind hochgradig beeinträchtigt.
20-34 Schwere Intelligenzminderung. Andauernde Unterstützung ist notwendig.
35-49 Mittelgradige Intelligenzminderung. Deutliche Entwicklungsverzögerung in der Kindheit. Die meisten können aber ein gewisses Maß an Unabhängigkeit erreichen und eine ausreichende Kommunikationsfähigkeit und Ausbildung erwerben.
50-69 Leichte Intelligenzminderung. Lernschwierigkeiten in der Schule. Viele Erwachsene können arbeiten, gute soziale Beziehungen unterhalten und ihren Beitrag zur Gesellschaft leisten.
85-115 Durchschnittliche Intelligenz. Rund zwei Drittel der Gesamtbevölkerung liegen in diesem Bereich.
121-130 Überdurchschnittlich betrachtet. Betroffene studieren ohne Probleme an Hochschulen oder üben kreative Tätigkeiten aus. Diese Gruppe bildet ungefähr sechs Prozent der Bevölkerung.
ab 130. Sehr weit überdurchschnittliche Intelligenz. Ab diesem Wert ist die Rede von Hochbegabung. Lediglich zwei Prozent der Bevölkerung sollen in diesem Bereich liegen. (sz)