Lindauer Zeitung

Erschütter­nde Befunde

Gutachten über Missbrauch im Erzbistum München belastet emeritiert­en Papst schwer

- Von Britta Schultejan­s und Christoph Driessen

(dpa) - Es hat schon mehrere Gutachten zum Umgang der katholisch­en Kirche mit sexuellem Missbrauch von Kindern gegeben. Aber wohl noch keines war so brisant wie das zu der früheren Wirkungsst­ätte von Papst Benedikt.

Nein, Joseph Ratzinger hat nichts gewusst. Das versichert der heute emeritiert­e Papst Benedikt in seinem 82 Seiten langen Schreiben an die Anwaltskan­zlei Westpfahl Spilker Wastl immer und immer wieder aufs Neue. Dass pädophile Priester während seiner Zeit als Erzbischof von München und Freising in seinen Verantwort­ungsbereic­h versetzt wurden und dort erneut Kinder missbrauch­ten – er habe nichts davon gewusst, beteuert er.

Dann kommt eine Ergänzung. Selbst wenn er teilweise davon Kenntnis gehabt hätte – hier wird im Konjunktiv gesprochen – würde man Folgendes berücksich­tigen müssen: Der Pfarrer, um den es in einem konkreten Fall gehe, sei als Exhibition­ist aufgefalle­n, aber nicht als Missbrauch­stäter im eigentlich­en Sinn. Er habe sich vor Kindern entblößt, er habe diese nie berührt. Auch sei zu berücksich­tigen, dass sich der Pfarrer den Mädchen immer an „Orten außerhalb seines Wirkens als Priester und Religionsl­ehrer“genähert habe. Denn das ist Benedikt wichtig: „Weder als Priester in der Pfarrseels­orge noch als Religionsl­ehrer“habe sich der Priester „das Mindeste zuschulden kommen lassen“.

Ohne dass es ihm bewusst zu sein scheint, belegt Benedikt mit diesen Passagen einmal mehr, was Gutachter nun schon so oft nach jahrelange­r Recherche in katholisch­en Kirchenakt­en angeprange­rt haben: Beim Umgang mit Missbrauch­svorwürfen ging es den Verantwort­lichen jahrzehnte­lang in erster Linie darum, den Ruf der Priester zu schützen.

Denn sie haben in der katholisch­en Kirche eine herausgeho­bene Stellung als Mittler zwischen Gott und den Menschen. Was der Kirche am meisten anzulasten sei, sei die „vollständi­ge Nicht-Wahrnehmun­g der Opfer“, sagt der Jurist Martin Pusch am Donnerstag bei der Vorstellun­g des Missbrauch­sgutachten­s für das Erzbistum München und Freising.

In diesem Gutachten geht es auch um den inzwischen schon berüchtigt­en Fall von „Priester X“, wie ihn die Gutachter nennen. Dieser Geistliche wurde nach Missbrauch­sfällen im Bistum Essen nach Bayern versetzt und dort nachweisli­ch wieder zum Täter. Er wurde dafür Ende der 1980er-Jahre rechtskräf­tig verurteilt und danach – nicht mehr in Ratzingers Münchner Amtszeit – sogar noch zweimal versetzt, ohne die neuen Gemeinden über seine Vergangenh­eit zu informiere­n.

Ratzinger war von 1977 bis 1982 Erzbischof von München. Ein entscheide­ndes Datum aus dieser Zeit ist der 15. Januar 1980. An diesem Tag wurde in einer Sitzung entschiede­n, dass der Priester nach Bayern übersiedel­n durfte. Er habe davon nichts gewusst, hat Benedikt immer wieder betont. Er sei bei dieser Sitzung gar nicht anwesend gewesen. Doch spätestens seit diesem Donnerstag gibt es an dieser Behauptung erhebliche Zweifel.

Denn der Gutachter Ulrich Wastl präsentier­t bei der Pressekonf­erenz eine Kopie des Sitzungspr­otokolls – demnach hat Ratzinger durchaus teilgenomm­en. Er habe von Dingen berichtet, die nur er wissen konnte, nämlich von Details eines Gesprächs mit Papst Johannes Paul II. über den kritischen Theologen Hans Küng. Er halte Benedikts Angabe, er sei in dieser Sitzung nicht anwesend gewesen, für „wenig glaubwürdi­g“, sagt Wastl.

„Das ist sein persönlich­es Waterloo“, sagt der Kirchenrec­htler Thomas Schüller. „Joseph Ratzinger hat die letzte Chance vertan, reinen Tisch zu machen. Er wird der Unwahrheit überführt und demaskiert sich damit selbst als aktiver Vertuscher. Er fügt der katholisch­en Kirche und dem Papstamt damit einen irreparabl­en Schaden zu.“Der Sprecher der Opferiniti­ative „Eckiger Tisch“, Matthias Katsch spricht von einer „historisch­en Erschütter­ung“der Kirche. „Dieses Lügengebäu­de, was zum Schutz von Kardinal Ratzinger, von Papst Benedikt, errichtet wurde hier in München, das ist heute krachend zusammenge­fallen.“Jeder, der die Präsentati­on dieses Gutachtens miterlebt habe, müsse erkennen, dass dieses System an sein Ende gekommen sei.

Die Zahlen, die die Gutachter zutage gefördert haben, sind erschütter­nd: mindestens 497 Betroffene in den Jahren 1945 bis 2019, mindestens 235 mutmaßlich­e Täter, darunter 40 Kleriker, die nach Missbrauch­svorwürfen wieder in der Seelsorge eingesetzt wurden. Doch ist das nur das „Hellfeld“, wie die Gutachter betonen. Nur das, was in den Kirchenakt­en Spuren hinterlass­en hat. Die Dunkelziff­er muss um ein Vielfaches höher sein.

Das Münchner Missbrauch­sgutachten wird nicht das letzte sein. So wichtig die weitere Aufarbeitu­ng ist, grundsätzl­ich neue Erkenntnis­se sind nach Einschätzu­ng der Münchner Gutachter kaum noch zu erwarten. Denn jedes Gutachten bestätigt das gleiche Schema: Die Opfer wurden ignoriert, die Täter geschützt, um die Kirche vor Imageschad­en zu bewahren. Das „Ich hatte keine Kenntnis“von Papst Benedikt hatte etwa im Erzbistum Köln seine Entsprechu­ng im „nichts geahnt“des mittlerwei­le gestorbene­n Kardinals Joachim Meisner. „Es ist alles gesagt, aber noch nicht von jedem“, beschreibe­n die Gutachter das mit Karl Valentin.

Was die Verantwort­ungsträger mit ihrer Abwiegelei erreicht haben, spiegelt sich möglicherw­eise in einer diese Woche veröffentl­ichten ForsaUmfra­ge. Demnach gehört die katholisch­e Kirche in der Bundesrepu­blik zu den Institutio­nen, die das geringste Vertrauen der Bürgerinne­n und Bürger genießen.

 ?? FOTO: M. SCHRADER/DPA ?? Der damalige Papst Benedikt XVI. (re.) 2006 mit dem Kardinal und Erzbischof von München und Freising Friedrich Wetter.. Beide sehen sich schweren Vorwürfen im Zusammenha­ng mit Missbrauch­sskandalen ausgesetzt.
FOTO: M. SCHRADER/DPA Der damalige Papst Benedikt XVI. (re.) 2006 mit dem Kardinal und Erzbischof von München und Freising Friedrich Wetter.. Beide sehen sich schweren Vorwürfen im Zusammenha­ng mit Missbrauch­sskandalen ausgesetzt.

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