Familienausflug nach Auschwitz
Yasmina Reza schreibt in „Serge“bitterböse und dennoch komisch über Familie und jüdische Herkunft
Ausgerechnet einäschern lässt sich Mutter. Nach allem, was ihre Vorfahren durchgemacht haben. Bis zu ihrem Tod haben sich Nana, Jean und Serge nie Gedanken über ihre jüdische Herkunft gemacht. Allein wenn das Wort Israel fiel, gab es Krach in der Familie. „Wozu brauchen wir Israel?“, sagte Maman, „guck dir doch an, wie viele Probleme das macht.“Was der Vater so nicht stehen lassen wollte: „Die Juden brauchen Israel.“Worauf die Mutter wieder entgegnete: „Brauchen wir es, Juden zu sein? Wir sind nicht gläubig.“Nach Mutters Tod aber fühlen sich die lang schon selbst erwachsenen Geschwister bemüßigt, sich mit ihrer Abstammung eingehender zu beschäftigen, und fassen deswegen den Entschluss, einen Familienausflug nach Auschwitz zu machen. Mit fatalen Folgen.
Die Ausgangssituation in Yasmina Rezas neuem Roman „Serge“, der in Frankreich im vergangenen Jahr gefeiert wurde und von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel kongenial übersetzt jetzt auf Deutsch erscheint, ist klassisch und birgt jede Menge Konfliktpotenzial. Mit viel Ironie schreibt die 1959 in Paris selbst als Tochter einer weitverzweigten jüdischen Familie geborene Yasmina Reza über Erinnerungskultur und ihre Tücken. Ein Leben lang haben die Geschwister keine Fragen gestellt, um sich nicht mit der Familiengeschichte zu belasten. „Im Grunde war es uns schnurz.“Jetzt aber, wo es zu spät ist, packt sie das schlechte Gewissen. Und welcher Ort eignet sich für eine Auseinandersetzung damit besser als ein Konzentrationslager?
Der Besuch wird zur Belastungsprobe. Das Thermometer zeigt 30 Grad an, wo bei Primo Levi doch immer von Kälte die Rede ist. Überall riecht es nach Sonnencreme. Serge bekommt in seinem dem Anlass angemessenen schwarzen Anzug fast einen Infarkt und wird wegen den Unmassen von „Leuten, die fast schon Strandkleidung tragen“klaustrophobisch. Darf man eigentlich Rauchen im KZ? Und seine Tochter Joséphine, die die „Pilgerfahrt“initiiert hat, muss sich von Tante Nana die Frage gefallen lassen: „Sag mal, falsche Wimpern, musste das sein, heute?“Vor dem Portal „Arbeit macht frei“posiert eine Schulklasse nach der anderen. Vor dem Wachhäuschen
macht eine Asiatin Selfies und setzt ein liebenswürdiges Halblächeln auf, „das sie von Aufnahme zu Aufnahme anders dosiert“. Und in der Kleiderstube vor den Gaskammern, in der sich die Schuhe der Ermordeten türmen, konstatiert Nana, dass die „damals schon Blockabsätze getragen“haben.
„Die gehen mir dermaßen auf den Sack!“, sagt Serge. „Kriegen den Hals nicht voll vom Unglück.“Wozu immer wieder der Apell „Vergesst nicht!“. Bleibt ein Wissen, das nicht zutiefst mit einem verbunden ist, doch ohnehin folgenlos. „Von der Erinnerung ist nichts zu erwarten“, heißt es einmal. „Dieser Fetischismus der Erinnerung ist bloßer Schein.“
Wie Martin Walser 1998 in seiner umstrittenen Paulskirchen-Rede, kritisiert auch Yasmina Reza die Instrumentalisierung des Holocaust. Aber sie macht das nicht auf moralische Weise und nicht als Deutsche, sondern als Jüdin. Kein gutes Haar lässt sie am Shoa-Tourismus. Aber bei all dem bitterbösen jüdischen Humor zeichnet sie ihre Figuren trotzdem liebevoll. Mit um die 60 haben die drei Geschwister die besten Jahre hinter sich. Serge erhält nach einem Seitensprung von seiner zweiten Frau den Laufpass, Ich-Erzähler Jean lebt allein. Etwas wie den Glauben, an dem man sich festhalten kann, könnten sie gut gebrauchen. Zum Glück haben sie, so unterschiedlich sie sind, einander. Die Familie ist nicht nur etwas, an dem man sich reibt, sie gibt auch Halt.
Große Themen wie soziale Vererbung, Schuld, Alter und Tod behandelt Yasmina Reza mit einer betörenden Leichtigkeit, die ihresgleichen sucht. Ihren immer geistreichen, lebendigen Dialogen merkt man die Dramatikerin an, die mit Stücken wie „Kunst“(1998) oder „Der Gott des Gemetzels“(2006) zu einer der am häufigsten gespielten Gegenwartsautorinnen wurde. Ihr an der Welt leidender Serge erinnert an eine der schrulligen Figuren von Isaac Bashevis Singer. Mit dem Buch hat sie ein wahres Meisterwerk vollbracht.
Yasmina Reza: Serge, Hanser Verlag, 208 Seiten, 22 Euro.