Feuer zerstört vor 100 Jahren Lindauer Stiftskirche
Als das Dach einstürzt, schlagen die Funken in den Himmel – Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung ist groß
- Vor genau 100 Jahren ist die Katholische Stiftskirche auf der Lindauer Insel fast vollständig abgebrannt. Nachdem sich das Feuer in den Dachstuhl gefressen hatte und die Decke einstürzte, versuchte die Feuerwehr, wenigstens den Turm zu retten. Die Anteilnahme und Hilfsbereitschaft sind in der Bevölkerung damals groß.
In ihrer jahrhundertelangen Geschichte ist das katholische „Münster Unserer Lieben Frau zu Lindau“wiederholt von Katastrophen und Feuerbränden heimgesucht und zerstört worden. Die aus der Gründung um 835 bestehende Kirche und das Kloster fielen 948 einem kriegerischen Einfall zum Opfer. Im Jahr 1051 berichtet Hermann der Lahme, der gelehrte Mönch von der Reichenau, von einem Brand des Gotteshauses. Beim großen Stadtbrand von 1728 wurde, neben 46 Wohnhäusern auch das gesamte Stiftsareal auf der östlichen Insel ein Raub der Flammen, und es dauerte über 20 Jahre, bis Stiftsgebäude und Kirche wieder in neuem Glanz erstehen konnten.
Manchem Leser wird auch noch die Schreckensnachricht in der Erinnerung sein, als im September 1987 die gesamte Decke im Hauptschiff niederstürzte. Heute aber gilt unsere Erinnerung dem Dachstuhlbrand der Stiftskirche (Münster Unserer Lieben Frau), der sich vor genau 100 Jahren in der Nacht vom 25. auf den 26. Januar 1922 ereignete.
„Trauernden Herzens und mit Tränen in den Augen steht die Kath. Pfarrgemeinde vor den rauchgeschwärzten Trümmern und Mauern ihres Gotteshauses.“So beschrieb Redakteur Ernst Drißner im „Lindauer Tagblatt“, was in der Nacht vom 25. auf 26. Januar 1922 geschehen war. Schon am späten Abend des 25. Januars 1922 hatten Gäste und die Wirtin des „Gasthof Stift“, Frau Bley, auf dem Marktplatz intensiven Brandgeruch wahrgenommen, doch niemandem war dabei auch nur der Gedanke an die Möglichkeit eines unsichtbar schwelenden Feuers gekommen. Alarmsignale der Feuerwehr schreckten gegen 1.30 Uhr die Einwohner der Inselstadt aus dem Schlaf. „In der Fischergasse brennt es“waren die ersten Rufe, denn ein Feuerschein lag über dem östlichen Teil unserer Insel. Dem war jedoch nicht so: Der Dachstuhl der katholischen Kirche stand in hellen Flammen. Das Feuer, dessen Entstehungsursache bis heute nicht festgestellt werden konnte, fand im hölzernen Dachstuhl reiche Nahrung.
Mit ziemlicher Gewissheit muss der Brand unbemerkt über der Wohnung des Mesners, die sich über der
Sakristei befand, ausgebrochen sein und hat sich von dort langsam auf den Kirchendachboden übertragen. Die schon relativ lange auf dem Ziegeldach lastende gefrorene Schneedecke ließ weder Rauch noch Feuer durch, bis die großen Staubmengen auf dem Dachboden explosionsartig verpufften und das Dach in die Luft gehoben wurde. Große helle Funkengarben schleuderten gen Himmel. „Welch ein schauriges Schauspiel mitten in der Winternacht; die Flammen züngelten am Turm empor, dessen Uhrwerk eine Viertelstunde nach der anderen verkündete, um mit jedem neuen Glockenschlag zu bekunden, dass das gefräßige Element gierig weiterlechzte“, beschrieb bereits wenige Stunden, nachdem es heller Tag geworden war, das „Tagblatt“die Situation der vergangenen Nacht.
Unter Einsatzleitung von Kommandant Max Schmid und seines Stellvertreters Jakob Schobloch bekämpften die Feuerwehrmänner den Brand, unterstützt durch die auswärtigen Löschmannschaften von Aeschach, Hoyern, Reutin, Unterreitnau und den Männern der Reichswehr. Bei der großen und raschen Ausdehnung, die das Feuer, trotz aller Anstrengungen, in kürzester Zeit angenommen hatte, war an eine vollständige Löschung nicht zu denken.
So mussten die Einsatzkräfte versuchen, wenigstens den Turm zu retten, was auch gelang. Mit Ziegelsteinen wurden die Turmfenster und der Eingang zum Kirchenschiff zugemauert, um ein Eindringen des Feuers zu verhindern. Zwischen Hauptschiff und Apsis blieb das überlebensgroße Kruzifix im Chorbogen hängen, gleich als wollte es dem Übergreifen des Feuers in den Altarraum Einhalt gebieten.
Lindauer Bürger ohne Unterschied der Konfession gingen eilend daran, die Schätze des Gotteshauses in Sicherheit zu bringen. Die kostbare Monstranz mit dem Allerheiligsten konnte Stadtpfarrer Ludwig Kerler retten, ebenso die Messgewänder und viele wertvolle sakrale Gegenstände. Die Kirchenbänke konnten noch rechtzeitig ausgebaut werden.
Bürgermeister Ludwig Siebert und der evangelische Pfarrer von St. Stephan, Christian Haffner, welcher eine große Muttergottesstatue rettete, waren unter den Letzten, die gerade noch rechtzeitig die Kirche verlassen konnten, bevor die Decke mit den herrlichen Fresken von Giuseppe Appiani zerbrach und unter Getöse herabstürzte.
Unbeschädigt blieb das an der im Südteil der Kirche angebaute Mesnerhaus (heute Gemeindehaus), welches aber vorsorglich ausgeräumt worden war. Glück im Unglück war es, dass Windstille herrschte, sonst hätte womöglich das Feuer auf die angrenzenden Gebäude, wie „Gasthof Stift“, Amtsgericht und Bezirksamt (Landratsamt) übergreifen können. Bäckermeister Emil Egg, von der nahen Weinstube am Marktplatz
Aus der Feder der Lindauer Heimatdichterin Celida Sesselmann erschien ein „dichterisches Gedenkwort“zum Brand der Stiftskirche, das hier in Auszügen vorgestellt werden soll.
„Eine Winternacht, s-st leise und sacht ein Knattern und Knistern und Krachen, als schleiche mit (heute Insel-Outlet), versorgte die ganze Nacht über die Feuerwehrmänner und Helfer, die vor Kälte zitterten und an denen sogar Eiszapfen hingen, unentgeltlich mit Glühwein, Kaffee und belegten Broten. Als gegen 5 Uhr in der Frühe das Feuer einigermaßen unter Kontrolle war, standen mit den Grundmauern nur noch die Seitengalerien, die Kanzel, der Altarraum und die Sakristei. Hinter den noch stehenden Umfassungsmauern lagen Gebälk und Mauerwerk, verkohlt und durchnässt in wirrem Durcheinander, Decke und Galerien waren zum Teil eingefallen, überall glimmende Balken. Auch die wertvolle Steinmayer-Orgel wurde durch einstürzendes Gebälk, Feuer und Löschwasser stark in Mitleidenschaft gezogen, sodass nicht klar war, ob sie zu retten sei. Wohin das Auge blickte: Verwüstung. Ein Bild des Jammers.
Die Ursache der Katastrophe ist bis heute ungeklärt; ein Kurzschluss kann aber mit Sicherheit ausgeschlossen werden, da die gesamte elektrische Anlage auch während des Brandes intakt und die Beleuchtung der Seitenschiffe bis zum Tagesanbruch in Betrieb waren.
In besonderem Maße kam das Mitgefühl der evangelischen Nachbargemeinde von St. Stephan zum Ausdruck. Bereits am nächsten Vormittag beschloss der Vorstand der evangelischen Kirchenverwaltung mit Stadtpfarrer Christian Haffner, der katholischen Stiftsgemeinde für die Zeit ihrer Heimatlosigkeit die Stephanskirche zur Verfügung zu stellen, und überreichte ihnen die Spende eines ungenannt sein wollenden evangelischen Mitchristen in Höhe von 100 000 Mark. Durch den schweren Schicksalsschlag war hungrigem Rachen ein Tier sich gierig auf Beute – niemand hört und nirgends sind Leute... Die Sturmglocke gellt. Da ist kein Halten, der Platz ist voll schwarzer Gestalten, aber mit rasender Schnelle ringeln wie Fackeln der Hölle die lodernden Flammen empor…“(lz)
Stadtpfarrer Ludwig Kerler nicht in der Lage, am darauffolgenden Sonntag selbst zu seinen Pfarrangehörigen zu sprechen. Er ließ daher von Kaplan Enders einen Brief von der Kanzel der evangelischen Kirche verlesen. Dabei bedankte er sich für alle Hilfe und Anteilnahme und versprach seinen Gläubigen, alles daran zu setzen, um die Stiftskirche wieder in neuem Glanz erstehen zu lassen: „Haben wir auch unser Gotteshaus verloren, unseren Herrgott haben wir noch, und wer ihn hat, braucht nicht zu verzagen.“Unter großen Mühen begann man mitten in der Zeit der Inflation mit dem Wiederaufbau. Für die Gestaltung der zerstörten Langhausdecke konnte der Münchner Waldemar Kolmsperger gewonnen werden, der als einer der letzten großen bayerischen Rokokomaler bezeichnet wurde. Er und sein Sohn standen vor der schwierigen Aufgabe, zu den in der Apsis und über den Seitenschiffen, zwar auch in Mitleidenschaft gezogenen, Fresken von Giuseppe Appiani das Deckengemälde wieder harmonisch einzufügen. Dies und auch die übrige Restaurierung wurde als äußerst gelungen betrachtet.
17 Monate hielt die Stiftsgemeinde ihre Gottesdienste in St. Stephan. Am 29. Juli 1923 konnte Stadtpfarrer Ludwig Kerler das Allerheiligste in die neu aufgebaute Kirche zurücktragen und das erste feierliche Hochamt halten. Die Heimkehr der Katholiken fand unter gewaltiger Anteilnahme der Bevölkerung statt. Außer den Bürgermeistern, zahlreichen Stadträten und den Mitgliedern beider Kirchenvorstände war auch Prinzessin Therese von Bayern, die Schwester des letzten regierenden Königs, zugegen; sie lebte seinerzeit in ihrer Villa am See.
In seiner Ansprache bedankte sich Stadtpfarrer Kerler bei der evangelischen Gemeinde für die liebevolle Aufnahme und übergab für die Armen der protestantischen Inselgemeinde die Kollekte des vorangegangenen Sonntags. Als Dank und Anerkennung für seine Mühe und Tatkraft beim Wiederaufbau der Stiftskirche wurde Stadtpfarrer Ludwig Kerler im Jahre 1928 von Papst Pius XI. zum Ehrenkämmerer mit dem Titel „Monsignore“ernannt.