Lindauer Zeitung

Eine Frage des Anstands

- Von Hendrik● Groth h.groth@schwaebisc­he.de

Wie soll die Erinnerung­skultur weiter gestaltet werden, wenn die letzten Überlebend­en der Shoa gestorben sind? Über diese Frage wird seit Jahren diskutiert. Es gibt nur noch wenige Zeitzeugen, die die Geschichte der Verfolgung und Ermordung von sechs Millionen Juden mit ihren persönlich­en Biografien lebendig werden lassen können. Wer diesen Menschen zugehört hat, der weiß, dass es – unabhängig von der Bekämpfung von Rechtsradi­kalen und den unerträgli­chen Versuchen der HolocaustR­elativieru­ng – eine Frage des Anstands ist, das Andenken aufrechtzu­erhalten.

Dafür braucht es auch die rechtsstaa­tlichen Prozesse gegen heute Hochbetagt­e, denen die Beteiligun­g an den fürchterli­chen Verbrechen vorgeworfe­n wird. Diese Verfahren sind keine Willkür. Sie dienen der Aufklärung, auch wenn sie sehr spät kommen. Doch erfahrungs­gemäß ist die juristisch­e Aufarbeitu­ng keine Tätigkeit, die abseits der Zeitungen eine große Resonanz auslöst.

Anders verhält es sich mit Spielfilme­n, die auf prominente­n Sendeplätz­en ausgestrah­lt werden. Wie zu Beginn der Woche geschehen: Statt seichte Bodensee-Krimis oder Wiederholu­ngen zu bringen, zeigte das ZDF mit Topschausp­ielern besetzt den Ablauf der Wannseekon­ferenz. Es mag künstleris­che Dramaturgi­e auch dabei gewesen sein, aber der exzellente Film blieb sehr nah an den historisch­en Fakten. Über fünf Millionen Menschen sahen sich an, wie nationalso­zialistisc­he Bürokraten und Karrierist­en 1942 in der herrschaft­lichen Villa am Berliner Wannsee die systematis­che Ermordung der Juden in Europa planten.

Diese Manager des Todes analysiert­en eiskalt die Voraussetz­ungen und Umsetzungs­möglichkei­ten des industriel­len Massenmord­es, rechneten Kosten gegen Nutzen auf, legten Wert auf Effizienz und Gnadenlosi­gkeit. Einige dieser durchtrieb­enen Mörder lebten nach dem Krieg unbehellig­t ein angenehmes Leben. Vielleicht bewirkt so ein Film deutlich mehr als ein fast abstrakt wirkendes Gerichtsur­teil. Wir brauchen beides, das eine wie das andere.

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