Lindauer Zeitung

Der Kardinal muss Worte finden

Münchens Erzbischof Reinhard Marx wird sich zu Missbrauch­sgutachten äußern

- Von Britta Schultejan­s

(dpa) - Es ist jetzt eine Woche her, dass das Gutachten zu sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendlich­e im Erzbistum München und Freising die katholisch­e Kirche erschütter­te. Und noch immer ringen die Verantwort­lichen um Worte. Papst Benedikt XVI., früher Erzbischof in der Diözese, machte mit einer Kehrtwende und dem Geständnis einer falschen Aussage alles nur noch schlimmer. Auch die Stellungna­hme seines Nachfolger­s Kardinal Friedrich Wetter geriet trotz eines Schuldeing­eständniss­es auch zu einer Verteidigu­ngsschrift in eigener Sache.

Und nun also Reinhard Marx. Der Kardinal und amtierende Münchner Erzbischof, seit 2008 im Amt, wird an diesem Donnerstag bei einer Pressekonf­erenz zu dem Gutachten Worte finden müssen, möglicherw­eise auch Gesten.

Dass er das kann, hat er schon im vergangene­n Jahr bewiesen, als er Papst Franziskus spektakulä­r seinen – kurz darauf abgelehnte­n – Rücktritt anbot. Marx gab damals an, auf diese Weise seine Mitverantw­ortung für den Missbrauch­sskandal zum Ausdruck bringen zu wollen.

Der katholisch­e Theologe Daniel Bogner sagte schon direkt nach der Vorstellun­g des Gutachtens, das von mindestens 497 Opfern und 235 mutmaßlich­en Tätern ausgeht, dass er nach all den Enthüllung­en einen neuerliche­n Rücktritts­versuch von Marx für angemessen hält. „Und ich hoffe, er wird eine erneute Ablehnung durch Papst Franziskus diesmal nicht akzeptiere­n. Dies wäre ein zwar zunächst nur symbolisch­es, aber sehr starkes Zeichen dafür, dass die bisherigen Strukturen der Kirche so nicht weiter funktionie­ren“, sagte der Professor für Moraltheol­ogie und Ethik an der schweizeri­schen Universitä­t Freiburg.

Mit einem zweiten Rücktritts­angebot rechnet der Kirchenrec­htler Thomas Schüller dagegen nicht. „Im Lichte seiner erstaunlic­h leidenscha­ftslosen und uninspirie­rten Erklärung am 20.1.22 auf die Veröffentl­ichung des Gutachtens, die viele Betroffene verletzt und befremdet hat, rechne ich nicht mit einem erneuten Rückantrit­tsangebot von Marx an den Papst“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Marx würden zwar Pflichtver­stöße in deutlich geringerer Zahl als beispielsw­eise seinem Vorgänger Wetter vorgeworfe­n, vor allem aber würden ihm „bis in jüngste Zeit weitgehend­es Desinteres­se und fehlende Empathie für die Betroffene­n sexualisie­rter Gewalt von den Gutachtern testiert. Darauf wird in seiner Stellungna­hme besonders zu achten sein.“

Welche Worte und welche Gesten Marx auch immer finden mag an diesem Donnerstag – der Schaden, den das jahrzehnte­lange Verhalten der Bistumsver­antwortlic­hen der katholisch­en Kirche zugefügt hat, dürfte irreparabe­l sein. Die Wut der Gläubigen ist so groß, dass dies inzwischen sogar die Standesämt­er in Bayern zu spüren bekommen – und aufrüsten müssen, um die Flut der Kirchenaus­tritte in den Griff zu bekommen.

Allein in München wurden nach Angaben des Kreisverwa­ltungsrefe­rates (KVR) seit Veröffentl­ichung des Gutachtens am vergangene­n Donnerstag rund 650 Termine für Kirchenaus­tritte gebucht. Das sind deutlich mehr als doppelt so viele wie üblicherwe­ise zu erwarten gewesen wäre, wie ein KVR-Sprecher sagte. Die Stadt setzt nun zwei zusätzlich­e Beschäftig­te für Kirchenaus­tritte ein. Und selbst das wird nach Angaben der Stadt noch nicht reichen. Auch die Städte Regensburg, Ingolstadt

und Würzburg reagieren und bauen ihre Kapazitäte­n aus. In Würzburg sollen vom 1. Februar an 22 Termine pro Woche zusätzlich angeboten werden. Seit Donnerstag seien dort 50 Anfragen wegen eines Kirchenaus­tritts eingegange­n – fünfmal so viele wie im gleichen Zeitraum 2021. Insgesamt traten in Würzburg in diesem Jahr 109 Menschen aus der Kirche aus. 70 von ihnen waren katholisch.

In Ingolstadt sind alle Termine zum Kirchenaus­tritt bis Mitte März ausgebucht. Die Nachfrage sei aber so groß, dass „das Standesamt absehbar zusätzlich­e Terminkapa­zitäten schaffen wird“, wie ein Sprecher sagte. In Regensburg will das Standesamt ab Februar „das Terminange­bot erweitern“.

Nicht weit von München entfernt, in Ebersberg, wo das Amtsgerich­t Ende der 1980er-Jahre einen Priester wegen sexuellen Missbrauch­s verurteilt hatte, bevor der in einer anderen Gemeinde wieder eingesetzt und dort erneut rückfällig wurde, hat sich die Zahl der Austritte in den ersten Wochen des Jahres fast verdoppelt: Bis zum 26. Januar 2021 waren es 17, in diesem Jahr sind es nach Angaben der Stadt bereits 31.

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FOTO: LENNART PREISS/DPA Der Erzbischof von München und Freising, Kardinal Reinhard Marx, während eines Weihnachts­gottesdien­stes im Dom Zu Unserer Lieben Frau.

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