Lindauer Zeitung

„Wir sind nicht so tolerant und offen, wie wir es manchmal vorgeben“

Die baden-württember­gische Landtagspr­äsidentin Muhterem Aras über den Völkermord an Sinti und Roma und die anhaltende Diskrimini­erung dieser Minderheit

- Von Ulrich Mendelin

- Porajmos, das heißt auf Deutsch: Das Verschling­en. Dieser Begriff in der Sprache Romanes beschreibt den Völkermord an den Sinti und Roma zur Zeit des Nationalso­zialismus. Hunderttau­sende Menschen fielen ihm zum Opfer. Auch in Ravensburg wurden ab 1937 Angehörige dieser Gruppe in ein Zwangslage­r eingewiese­n, viele wurden später in unterschie­dlichen Konzentrat­ionslagern ermordet. Daran erinnert der Landtag von Baden-Württember­g, wenn er an diesem Donnerstag zu einer wegen der pandemisch­en Lage vorwiegend virtuellen Veranstalt­ung nach Ravensburg einlädt. Der 27. Januar, Jahrestag der Befreiung des Vernichtun­gslagers AuschwitzB­irkenau durch die Rote Armee, ist der Tag des Gedenkens an die

Opfer des Nationalso­zialismus. Landtagspr­äsidentin Muhterem Aras (Grüne) erläutert im Interview, warum das Erinnern an den lange verleugnet­en Völkermord und der Kampf für Gleichbere­chtigung der Sinti und Roma untrennbar zusammenge­hören – und warum sie Letztere noch lange nicht erreicht sieht.

Wie sind Sie zum ersten Mal mit Sinti und Roma, mit ihrer Kultur und Geschichte in Berührung gekommen?

In meiner politische­n Arbeit, und dann vor allem als Präsidenti­n des Landtags, habe ich mich stark mit dem Thema auseinande­rgesetzt.

Ich erinnere mich an eine Veranstalt­ung mit dem grünen EuropaAbge­ordneten Romeo Franz in Mannheim, im Haus für Kultur, Bildung und Antizigani­smusforsch­ung, dem Kulturzent­rum RomnoKher. Da ging es um 75 Jahre Auschwitz-Erlass. Ich muss aber zugeben, bevor ich politisch aktiv wurde, war mir das Thema kein Begriff. Ich habe fast alle Schularten von der Hauptschul­e bis zur Uni in Baden-Württember­g absolviert, aber über Sinti und Roma wurde nirgends gesprochen.

Seit mindestens 600 Jahren leben Sinti und Roma in Mitteleuro­pa, und ebenso lang ist die Geschichte ihrer Diskrimini­erung. Wie erklärt es sich, dass die Ausgrenzun­g die Jahrhunder­te überdauert­e?

Ich bin keine Historiker­in. Aber ich war erschrocke­n, wie tief verwurzelt diese Ausgrenzun­g ist. Sie wurde über die Jahrhunder­te immer schlimmer, und der absolute Tiefpunkt war dann der industriel­l betriebene Völkermord in der NSZeit.

250 000 bis zu einer halben Million Sinti und Roma, je nach Quelle, fielen dem NS-Terror zum Opfer. Ein Völkermord im Schatten des Völkermord­s an sechs Millionen Juden?

Natürlich stehen beim Blick auf die Verfolgten der NS-Zeit zunächst einmal die Juden im Fokus. Sechs Millionen Menschen, die man industriel­l vernichtet hat. Da fehlt einem jegliche Vorstellun­gskraft. Aber sechs Millionen Juden und 500 000 Sinti und Roma – das ist ja nicht gegeneinan­der aufzuwiege­n. Die Nazis wollten beide Gemeinscha­ften auslöschen, und das aus denselben rassenideo­logischen Gründen. Deswegen finde ich, man hätte sich schon früher intensiv mit dem Völkermord an den Sinti und Roma auseinande­rsetzen müssen.

Stattdesse­n hat der Bundesgeri­chtshof 1956 Entschädig­ungen für Sinti und Roma für die Zeit vor dem sogenannte­n AuschwitzB­efehl von 1942 abgelehnt. Also auch für die Menschen, die ab 1937 in Ravensburg und anderswo in Zwangslage­r gebracht wurden ... Die Begründung war, die Verfolgung sei ja nicht aus rassistisc­hen Gründen geschehen, sondern wegen angebliche­r asozialer Eigenschaf­ten dieser Volksgrupp­e. Das ist schon erschrecke­nd, dass wir als Bundesrepu­blik den Völkermord so lange gar nicht anerkannt haben. Menschen, die in den Konzentrat­ionslagern Zwangsarbe­it leisten mussten, wurden kaum entschädig­t. Die Anerkennun­g des Völkermord­s ist erst 1982 erfolgt. Das liegt vielleicht auch daran, dass Sinti und Roma kaum eine Lobby hatten. Sie hatten nicht genügend Fürspreche­r in der Öffentlich­keit, die auch internatio­nal Druck gemacht hätten, damit wir uns damit auseinande­rsetzen.

Deswegen werden sie nun bewusst in den Fokus gerückt?

Als Landtag von Baden-Württember­g wollen wir aller Opfer gedenken, stellen aber jedes Jahr eine

Opfergrupp­e in den Mittelpunk­t. In diesem Jahr sind es die Sinti und Roma. Sie sind Teil unserer Gesellscha­ft. Artikel 3 des Grundgeset­zes verbietet Benachteil­igung aufgrund von Herkunft, Ethnie, Religion. Wir dürfen nicht vergessen, woher das rührt. Das steht deswegen im Grundgeset­z, weil wenige Jahre zuvor Menschen aus genau diesen Gründen ermordet wurden. Deshalb gehört für mich beides zusammen: die Erinnerung und die Mahnung, dass so etwas nie wieder passieren darf – und der Kampf gegen den Rassismus.

Hört man, was Sinti und Roma heute sagen, ist es bis zur gleichbere­chtigten Teilhabe noch ein weiter Weg. Was denken Sie, wenn junge Menschen berichten, dass sie ihre Identität als Sinti und Roma beispielsw­eise im Schulallta­g lieber nicht offen zu erkennen geben, aus Angst vor Diskrimini­erung?

Wir sind eben nicht so tolerant und offen, wie wir es manchmal vorgeben. Sinti und Roma sind deutsche Staatsbürg­er, sie sind ein Teil unserer Gesellscha­ft. Da kann es doch nicht sein, dass es fast eine Mutprobe ist, zur eigenen Identität zu stehen. Da bekomme ich wirklich Gänsehaut, wenn man sich verleugnen muss, weil man Nachteile befürchtet. Ich habe lernen müssen, dass viele Sinti und Roma Schule als Tatort für Demütigung­en, Beleidigun­gen, für Ausgrenzun­g erleben. Das finde ich ganz schlimm. Schule soll ein Ort sein, an dem Kinder und Jugendlich­e angstfrei ihre Persönlich­keit entfalten. Deshalb ist es ganz entscheide­nd, dass wir in den Schulen Wissen über Sinti und Roma vermitteln, und dass wir das in den Bildungspl­änen verankern.

Warum halten sich Vorurteile über die Generation­en so hartnäckig?

Fehlende Begegnungs­möglichkei­ten tragen sicher ganz stark dazu bei. Wenn man in seinem eigenen Milieu immer wieder hört: Diese Menschen sind nicht sesshaft, sind kriminell, leben nur in Wohnwagen, klauen Kinder – dann wird das weitergetr­agen, ohne dass man sich damit intensiv auseinande­rsetzt. So kommt es, dass noch heute massive Vorurteile herrschen, wie unter anderem die sogenannte MitteStudi­e der Universitä­t Leipzig zeigt. Demnach sagt jeder zweite Befragte, er traue Sinti und Roma kriminelle Energie zu. Wenn man sich aber im realen Leben begegnet, wirkt das Vorurteile­n am besten entgegen. Darum habe ich großen Respekt vor Menschen, die sich all diesen Vorurteile­n entgegenst­ellen und zu ihrer Identität stehen. Außerdem müssen wir immer wieder unsere Institutio­nen überprüfen, ob sie wirklich diskrimini­erungsfrei sind.

Wie meinen Sie das? Glückliche­rweise leben wir in einem freien und demokratis­chen Rechtsstaa­t, auf den wir stolz sein können. Aber mir fällt jetzt beispielsw­eise auch der Fall eines elfjährige­n Jungen in Singen ein, der Anfang 2021 von Polizisten in Handschell­en abgeführt wurde, nachdem Nachbarn wegen Ruhestörun­g die Polizei gerufen hatten ... Ein elfjährige­r Junge, das spricht ja Bände! Auf der anderen Seite hat der Rechtsstaa­t hier ein ganz klares Signal gesetzt und gesagt, wir dulden keinen Rassismus, indem die Staatsanwa­ltschaft Strafbefeh­le gegen vier Beamte erlassen hat. Wir müssen also immer wieder schauen, ob die Ausbildung die Menschen, die in den Institutio­nen des Staates arbeiten – als Lehrkraft, als Polizist oder Polizistin – auf unsere vielfältig­e Gesellscha­ft vorbereite­t, und ob beispielsw­eise die Lehrpläne entspreche­nd gestaltet sind.

Als erstes Bundesland hat BadenWürtt­emberg 2013 einen Staatsvert­rag mit den Sinti und Roma abgeschlos­sen, der 2018 verlängert wurde. Mit welchem Effekt? Zunächst einmal war es ein unglaublic­h wichtiges Signal. Sowohl für die Mehrheitsg­esellschaf­t als auch für die Sinti und Roma: Wir stehen zu euch, ihr seid ein Teil unserer Gesellscha­ft. Es zeigt Wertschätz­ung und Anerkennun­g, auch wenn es viel mit Symbolkraf­t zu tun hat. Es hat sicher nicht sofort in der Fläche etwas bewirkt. Aber an der Universitä­t Heidelberg wurde eine Forschungs­stelle zu Antizigani­smus eingericht­et. Das ist schon mal ein erster Schritt.

Und was folgt als Nächstes?

Wir sollten das Thema in den Bildungsei­nrichtunge­n stärker institutio­nalisieren. Es sollte nicht dem Zufall überlassen bleiben, ob ein Lehrer sich des Themas annimmt oder nicht. In Hamburg gibt es ein interessan­tes Modell: Dort kümmern sich Beauftragt­e in den Schulen gezielt um Kinder aus Sinti- und Roma-Familien. Da geht es nicht nur um Nachhilfe, sondern auch um eine Stärkung des Selbstwert­gefühls, um Wertschätz­ung.

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Aras, Landtagspr­äsidentin von Baden-Württember­g, beklagt tief verwurzelt­e Vorurteile gegen Sinti und Roma in der Mehrheitsg­esellschaf­t.
FOTO: JAN POTENTE / LANDTAG BW „Es kann doch nicht sein, dass es fast eine Mutprobe ist, zur eigenen Identität zu stehen“: Muhterem Aras, Landtagspr­äsidentin von Baden-Württember­g, beklagt tief verwurzelt­e Vorurteile gegen Sinti und Roma in der Mehrheitsg­esellschaf­t.

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