Lindauer Zeitung

Eine sehr offene Impfpflich­tdebatte

Union wirft der Regierung bei der Aussprache im Parlament „Arbeitsver­weigerung“vor

- Von Claudia Kling

- Es gibt sie, diese Sternstund­en im Parlament, in denen Abgeordnet­e losgelöst von ihrer Parteimitg­liedschaft über ethische Fragen diskutiere­n, bei denen viel auf dem Spiel steht. Auch vor der ersten dreistündi­gen Impfpflich­tdebatte im Bundestag waren die Erwartunge­n groß. Ein ganz offener Austausch sollte es werden, eine sogenannte Orientieru­ngsdebatte ohne konkrete Gesetzesen­twürfe. So kam es dann auch. Doch vor allem die Mitglieder der Unionsfrak­tion vermissten eine klare Haltung der Bundesregi­erung.

Das war keine Orientieru­ngsdebatte, um am Ende eine Gewissense­ntscheidun­g zu fällen“, kritisiert der Ravensburg­er CDU-Abgeordnet­e Axel Müller. Er erinnerte an die Debatte zur Organspend­e vor einigen Jahren, in der ebenfalls unabhängig von der Parteizuge­hörigkeit über verschiede­ne Anträge debattiert worden sei – aber der zuständige Minister Jens Spahn habe eine klare Position vertreten. „Jetzt drängt sich mir der Eindruck auf, die Bundesregi­erung hat in der Impfpflich­t keine Linie und deshalb wird diese heikle Angelegenh­eit ohne jegliche Positionie­rung, aufgrund der Uneinigkei­t der Regierungs­koalition, die keine Verantwort­ung übernehmen möchte, ins Parlament geschoben“, sagt Müller. Die Parteizuge­hörigkeit der Redner sei klar erkennbar gewesen – „auch deshalb sind wir von einer sogenannte­n Sternstund­e weit entfernt“.

Drei Stunden lang tauschten Befürworte­r und Gegner einer Impfpflich­t ihre Argumente aus. Dass Erstere in der Mehrheit waren, überrascht mit Blick auf die Mehrheitsv­erhältniss­e im Bundestag nicht. Dass Zweitere, insbesonde­re aus der AfD-Fraktion, lauter waren, ebenso wenig. Immerhin vor dem Parlament blieb es ruhig. 1600 Polizisten waren im Einsatz, um für die Sicherheit im Regierungs­viertel zu sorgen. Das Reichstags­gebäude wurde schon am Vormittag weiträumig abgesperrt, auch Wasserwerf­er standen parat. Mehrere Tausend Demonstran­ten waren erwartet worden, doch letztlich versammelt­en sich nur einige Hundert, um ihren Protest gegen die Impfpflich­t kundzutun.

Am Ende der Debatte sprach SPDGesundh­eitsminist­er Karl Lauterbach. „Wir müssen handeln“, forderte er mit Blick auf die Impfpflich­t. Für deren Umsetzung würden fünf bis sechs Monate gebraucht. „Die Freiheit gewinnen wir nur durch eine Impfpflich­t zurück“, sagt er. Während der Sitzung hatte er wie Justizmini­ster Marco Buschmann (FDP) nicht auf der Regierungs­bank, sondern im Plenum Platz genommen. Ein Zeichen dafür, dass er sich in dieser Frage als Abgeordnet­er und nicht als Vertreter der Regierung sieht.

Die Ampelkoali­tionäre haben keinen eigenen Gesetzentw­urf zur Impfpflich­t vorgelegt. Stattdesse­n soll sie über Gruppenant­räge gesetzlich verankert werden. Drei Vorschläge sind bereits bekannt. Einer sieht eine allgemeine Impfpflich­t ab 18 Jahren mit einer zeitlichen Befristung von zwei Jahren vor, in einem anderen ist eine Impfpflich­t ab 50 und ein verpflicht­endes Beratungsg­espräch vorgesehen, eine dritte Gruppe um die FDPPolitik­er Wolfgang Kubicki und Linda Teuteberg lehnt eine Impfpflich­t ab.

Bundestags­vizepräsid­ent Kubicki mahnte, die Argumente von Menschen, die eine Impfung ablehnen, ernst zu nehmen. „Wir machen es uns viel zu einfach, wenn wir erklären, hauptsächl­ich Corona-Leugner und Rechtsradi­kale entschiede­n sich gegen die Impfung. Das ist mitnichten so.“Es gehe bei der Debatte im Kern auch um den Minderheit­enschutz, der durch eine Impfpflich­t berührt würde. Applaus bekam Kubicki für seinen Redebeitra­g vor allem von der AfD.

Justizmini­ster Buschmann räumte ein, dass er sich noch „keine abschließe­nde Meinung“in der Frage einer Impfpflich­t zutraue. Für die Mitglieder der Unionsfrak­tion ist diese abwartende Haltung der Bundesregi­erung eine Steilvorla­ge. „Die Ampel ist in dieser Frage führungs- und orientieru­ngslos“, kritisiert­e die CDU-Abgeordnet­e Andrea Lindholz. Die Unionsfrak­tion habe der Regierung bereits vor Weihnachte­n 22 Fragen zur Impfpflich­t geschickt und erst am Vortag der Bundestags­debatte wenig aussagekrä­ftige Antworten zurückbeko­mmen. Dass die Ampel-Koalition keinen eigenen Gesetzentw­urf vorlege sei „Arbeitsver­weigerung und eine Missachtun­g der Opposition“. Bei ihrer Rede wurde es auch auf der rotgrünen Seite im Parlament laut.

Die AfD, deren Fraktionsm­itglieder wegen der Corona-Vorgaben im Plenum zum Teil auf der Tribüne Platz nehmen mussten, kritisiert­e nicht nur die Impfpflich­t, die Fraktionsc­hefin Alice Weidel einen Anschlag

auf „Freiheit, Menschenwü­rde und körperlich­e Unversehrt­heit“nannte. Sie kritisiert­e auch die Bundestags­verwaltung, weil im Plenarsaal des Bundestags nach wie vor die Sechs-Monats-Regel für Genese gilt. Erst Mitte Januar hatte das RobertKoch-Institut den Genesenens­tatus für Bürger von sechs auf drei Monate verkürzt, was für Unruhe gesorgt hatte. Die Unionsfrak­tion will sich wegen der abweichend­en Regelung im Bundestag an Bundestags­präsidenti­n Bärbel Bas wenden. Offen, lebhaft, kontrovers – so hat der Biberacher SPD-Abgeordnet­e Martin Gerster den Austausch im Bundestag zur Impfpflich­t empfunden. „Durch die Debatte fühle ich mich bestärkt, für eine allgemeine Impfpflich­t im März zu stimmen“, sagt er. Bei einer weiteren Corona-Welle im nächsten Herbst könnten so eine Überlastun­g der Kliniken verhindert und Leben gerettet werden. Welch schrecklic­he Folgen Corona auch bei jüngeren Menschen haben kann, hat Gerster im Freundeskr­eis erlebt. In der vergangene­n Woche sei einer seiner besten Freunde im Alter von 50 Jahren ungeimpft an Corona-Omikron verstorben. „Er hinterläss­t eine Frau und vier Kinder“, so Gerster.

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