Eine sehr offene Impfpflichtdebatte
Union wirft der Regierung bei der Aussprache im Parlament „Arbeitsverweigerung“vor
- Es gibt sie, diese Sternstunden im Parlament, in denen Abgeordnete losgelöst von ihrer Parteimitgliedschaft über ethische Fragen diskutieren, bei denen viel auf dem Spiel steht. Auch vor der ersten dreistündigen Impfpflichtdebatte im Bundestag waren die Erwartungen groß. Ein ganz offener Austausch sollte es werden, eine sogenannte Orientierungsdebatte ohne konkrete Gesetzesentwürfe. So kam es dann auch. Doch vor allem die Mitglieder der Unionsfraktion vermissten eine klare Haltung der Bundesregierung.
Das war keine Orientierungsdebatte, um am Ende eine Gewissensentscheidung zu fällen“, kritisiert der Ravensburger CDU-Abgeordnete Axel Müller. Er erinnerte an die Debatte zur Organspende vor einigen Jahren, in der ebenfalls unabhängig von der Parteizugehörigkeit über verschiedene Anträge debattiert worden sei – aber der zuständige Minister Jens Spahn habe eine klare Position vertreten. „Jetzt drängt sich mir der Eindruck auf, die Bundesregierung hat in der Impfpflicht keine Linie und deshalb wird diese heikle Angelegenheit ohne jegliche Positionierung, aufgrund der Uneinigkeit der Regierungskoalition, die keine Verantwortung übernehmen möchte, ins Parlament geschoben“, sagt Müller. Die Parteizugehörigkeit der Redner sei klar erkennbar gewesen – „auch deshalb sind wir von einer sogenannten Sternstunde weit entfernt“.
Drei Stunden lang tauschten Befürworter und Gegner einer Impfpflicht ihre Argumente aus. Dass Erstere in der Mehrheit waren, überrascht mit Blick auf die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag nicht. Dass Zweitere, insbesondere aus der AfD-Fraktion, lauter waren, ebenso wenig. Immerhin vor dem Parlament blieb es ruhig. 1600 Polizisten waren im Einsatz, um für die Sicherheit im Regierungsviertel zu sorgen. Das Reichstagsgebäude wurde schon am Vormittag weiträumig abgesperrt, auch Wasserwerfer standen parat. Mehrere Tausend Demonstranten waren erwartet worden, doch letztlich versammelten sich nur einige Hundert, um ihren Protest gegen die Impfpflicht kundzutun.
Am Ende der Debatte sprach SPDGesundheitsminister Karl Lauterbach. „Wir müssen handeln“, forderte er mit Blick auf die Impfpflicht. Für deren Umsetzung würden fünf bis sechs Monate gebraucht. „Die Freiheit gewinnen wir nur durch eine Impfpflicht zurück“, sagt er. Während der Sitzung hatte er wie Justizminister Marco Buschmann (FDP) nicht auf der Regierungsbank, sondern im Plenum Platz genommen. Ein Zeichen dafür, dass er sich in dieser Frage als Abgeordneter und nicht als Vertreter der Regierung sieht.
Die Ampelkoalitionäre haben keinen eigenen Gesetzentwurf zur Impfpflicht vorgelegt. Stattdessen soll sie über Gruppenanträge gesetzlich verankert werden. Drei Vorschläge sind bereits bekannt. Einer sieht eine allgemeine Impfpflicht ab 18 Jahren mit einer zeitlichen Befristung von zwei Jahren vor, in einem anderen ist eine Impfpflicht ab 50 und ein verpflichtendes Beratungsgespräch vorgesehen, eine dritte Gruppe um die FDPPolitiker Wolfgang Kubicki und Linda Teuteberg lehnt eine Impfpflicht ab.
Bundestagsvizepräsident Kubicki mahnte, die Argumente von Menschen, die eine Impfung ablehnen, ernst zu nehmen. „Wir machen es uns viel zu einfach, wenn wir erklären, hauptsächlich Corona-Leugner und Rechtsradikale entschieden sich gegen die Impfung. Das ist mitnichten so.“Es gehe bei der Debatte im Kern auch um den Minderheitenschutz, der durch eine Impfpflicht berührt würde. Applaus bekam Kubicki für seinen Redebeitrag vor allem von der AfD.
Justizminister Buschmann räumte ein, dass er sich noch „keine abschließende Meinung“in der Frage einer Impfpflicht zutraue. Für die Mitglieder der Unionsfraktion ist diese abwartende Haltung der Bundesregierung eine Steilvorlage. „Die Ampel ist in dieser Frage führungs- und orientierungslos“, kritisierte die CDU-Abgeordnete Andrea Lindholz. Die Unionsfraktion habe der Regierung bereits vor Weihnachten 22 Fragen zur Impfpflicht geschickt und erst am Vortag der Bundestagsdebatte wenig aussagekräftige Antworten zurückbekommen. Dass die Ampel-Koalition keinen eigenen Gesetzentwurf vorlege sei „Arbeitsverweigerung und eine Missachtung der Opposition“. Bei ihrer Rede wurde es auch auf der rotgrünen Seite im Parlament laut.
Die AfD, deren Fraktionsmitglieder wegen der Corona-Vorgaben im Plenum zum Teil auf der Tribüne Platz nehmen mussten, kritisierte nicht nur die Impfpflicht, die Fraktionschefin Alice Weidel einen Anschlag
auf „Freiheit, Menschenwürde und körperliche Unversehrtheit“nannte. Sie kritisierte auch die Bundestagsverwaltung, weil im Plenarsaal des Bundestags nach wie vor die Sechs-Monats-Regel für Genese gilt. Erst Mitte Januar hatte das RobertKoch-Institut den Genesenenstatus für Bürger von sechs auf drei Monate verkürzt, was für Unruhe gesorgt hatte. Die Unionsfraktion will sich wegen der abweichenden Regelung im Bundestag an Bundestagspräsidentin Bärbel Bas wenden. Offen, lebhaft, kontrovers – so hat der Biberacher SPD-Abgeordnete Martin Gerster den Austausch im Bundestag zur Impfpflicht empfunden. „Durch die Debatte fühle ich mich bestärkt, für eine allgemeine Impfpflicht im März zu stimmen“, sagt er. Bei einer weiteren Corona-Welle im nächsten Herbst könnten so eine Überlastung der Kliniken verhindert und Leben gerettet werden. Welch schreckliche Folgen Corona auch bei jüngeren Menschen haben kann, hat Gerster im Freundeskreis erlebt. In der vergangenen Woche sei einer seiner besten Freunde im Alter von 50 Jahren ungeimpft an Corona-Omikron verstorben. „Er hinterlässt eine Frau und vier Kinder“, so Gerster.