Lindauer Zeitung

Marx räumt Mitverantw­ortung ein

Kardinal gesteht eigene Fehler im Umgang mit Münchner Missbrauch­sfällen

- Von Patrick Guyton

- Vor der Katholisch­en Akademie in München zeigen sie Präsenz und machen eine kleine Kundgebung: Betroffene des Missbrauch­sskandals. Und die Betroffene Agnes Wich, als Neunjährig­e von einem katholisch­en Pfarrer missbrauch­t, meint: „Das Gutachten ist sehr gut, sehr ausdruckss­tark. Aber bringt es auch etwas?“

Das Gutachten – das sind jene 1893 Seiten über den sexuellen Missbrauch im Erzbistum München-Freising von 1945 bis 2019, erstellt von der Rechtsanwa­ltskanzlei WestpfahlS­pilker-Wastl im Auftrag der Kirche. Nun äußert sich Kardinal Reinhard Marx als oberster Münchner Katholik erstmals persönlich dazu.

Von einem „tiefen Einschnitt für die Kirche“spricht der Mann dann in seiner schwarzen Geistliche­n-Kleidung, er sei „erschütter­t und erschrocke­n“– auch über „Täter und Beschuldig­te und das Verhalten von Verantwort­lichen“. Marx sagt das, was Kritiker dem katholisch­en Apparat schon lange vorgeworfe­n haben – dass beim Umgang mit Missbrauch und dessen Verdeckung eine „systemisch­e Struktur“bestanden habe. Die Kirche sei zum „Ort des Unheils und nicht des Heils“geworden. Er bitte um Entschuldi­gung bei Betroffene­n und auch Gläubigen und trage als Erzbischof die „moralische Verantwort­ung“.

Führungskr­äften der Diözese, Marx selbst, seinen Münchner Bischofsvo­rgängern und dem zurückgetr­etenen Papst Benedikt XVI. werden in dem Gutachten teils schwere Verfehlung­en vorgeworfe­n. Es listet die Fälle von 495 Opfern und 235 mutmaßlich­en Tätern auf. Die Münchner Staatsanwa­ltschaft prüft 42 Fälle, in denen die Geistliche­n noch leben und auch strafrecht­lich zur Verantwort­ung gezogen werden könnten.

Reinhard Marx steht voll und ganz hinter dem Gutachten, daran lässt er keinen Zweifel. Es sei ein „wichtiger Baustein der weiteren Aufarbeitu­ng“. Der Kardinal beschreibt eine tiefschwar­ze Seite des Katholizis­mus zumindest in seiner Diözese. „Wir sehen ein Desaster“, meint er, die Kirche sei zum „Ort der Angst“geworden, man blicke auf eine „Sonderwelt“. Hart attackiert er den Klerikalis­mus – also die Haltung von Geistliche­n, sich über die Laien zu stellen – als eine „Gefährdung“.

Kirchenint­ern gibt es in Teilen durchaus abwehrende Haltungen zu den Vorwürfen. Vom „Missbrauch des Missbrauch­s“wird da geredet, etwa vom Regensburg­er Bischof Rudolf Voderholze­r Ende 2018. Manche Kreise, so Voderholze­r, würden den Missbrauch instrument­alisieren, um eine „andere Kirche“etablieren zu wollen. Diese Gedanken hält Marx wiederum für „völlig abwegig“.

Eine vorerst noch weiche personelle Konsequenz gibt es in der Diözese: Der einflussre­iche Domdekan Lorenz Wolf lässt laut Marx vorerst alle Ämter ruhen. So war er etwa als Gottesmann bislang Vorsitzend­er des Rundfunkra­tes des Bayerische­n Rundfunks. Wolf wird in dem Gutachten vorgeworfe­n, sich eher vor beschuldig­te Geistliche gestellt und Opfer erst einmal misstrauis­ch beäugt zu haben. Er soll nun Zeit bekommen,

Stellung zu nehmen. Eine klare personelle Trennung der Diözese von ihm hätte anders ausgesehen.

Auf mehrfache Nachfragen zum Ex-Papst und einstigen Münchner Kardinal Joseph Ratzinger bleibt Marx völlig nebulös. Hat Ratzinger falsche Angaben gemacht? „Ich habe keine Informatio­nen darüber, dass er vertuscht hat.“

Scharenwei­se treten Katholiken in Bayern aus der Kirche aus, die Standesämt­er verbuchen bis zu dreimal so viele Termine wie sonst. Marx bleibt vage, wie die Kirche diese Gläubigen zurückgewi­nnen will. Ja, gleichgesc­hlechtlich­e Partnersch­aften bei Kirchenbed­iensteten würden künftig eher akzeptiert, man nehme

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FOTO: SVEN HOPPE/DPA Kardinal Marx: Kirche sei „Ort der Angst“geworden.

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