Marx räumt Mitverantwortung ein
Kardinal gesteht eigene Fehler im Umgang mit Münchner Missbrauchsfällen
- Vor der Katholischen Akademie in München zeigen sie Präsenz und machen eine kleine Kundgebung: Betroffene des Missbrauchsskandals. Und die Betroffene Agnes Wich, als Neunjährige von einem katholischen Pfarrer missbraucht, meint: „Das Gutachten ist sehr gut, sehr ausdrucksstark. Aber bringt es auch etwas?“
Das Gutachten – das sind jene 1893 Seiten über den sexuellen Missbrauch im Erzbistum München-Freising von 1945 bis 2019, erstellt von der Rechtsanwaltskanzlei WestpfahlSpilker-Wastl im Auftrag der Kirche. Nun äußert sich Kardinal Reinhard Marx als oberster Münchner Katholik erstmals persönlich dazu.
Von einem „tiefen Einschnitt für die Kirche“spricht der Mann dann in seiner schwarzen Geistlichen-Kleidung, er sei „erschüttert und erschrocken“– auch über „Täter und Beschuldigte und das Verhalten von Verantwortlichen“. Marx sagt das, was Kritiker dem katholischen Apparat schon lange vorgeworfen haben – dass beim Umgang mit Missbrauch und dessen Verdeckung eine „systemische Struktur“bestanden habe. Die Kirche sei zum „Ort des Unheils und nicht des Heils“geworden. Er bitte um Entschuldigung bei Betroffenen und auch Gläubigen und trage als Erzbischof die „moralische Verantwortung“.
Führungskräften der Diözese, Marx selbst, seinen Münchner Bischofsvorgängern und dem zurückgetretenen Papst Benedikt XVI. werden in dem Gutachten teils schwere Verfehlungen vorgeworfen. Es listet die Fälle von 495 Opfern und 235 mutmaßlichen Tätern auf. Die Münchner Staatsanwaltschaft prüft 42 Fälle, in denen die Geistlichen noch leben und auch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden könnten.
Reinhard Marx steht voll und ganz hinter dem Gutachten, daran lässt er keinen Zweifel. Es sei ein „wichtiger Baustein der weiteren Aufarbeitung“. Der Kardinal beschreibt eine tiefschwarze Seite des Katholizismus zumindest in seiner Diözese. „Wir sehen ein Desaster“, meint er, die Kirche sei zum „Ort der Angst“geworden, man blicke auf eine „Sonderwelt“. Hart attackiert er den Klerikalismus – also die Haltung von Geistlichen, sich über die Laien zu stellen – als eine „Gefährdung“.
Kirchenintern gibt es in Teilen durchaus abwehrende Haltungen zu den Vorwürfen. Vom „Missbrauch des Missbrauchs“wird da geredet, etwa vom Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer Ende 2018. Manche Kreise, so Voderholzer, würden den Missbrauch instrumentalisieren, um eine „andere Kirche“etablieren zu wollen. Diese Gedanken hält Marx wiederum für „völlig abwegig“.
Eine vorerst noch weiche personelle Konsequenz gibt es in der Diözese: Der einflussreiche Domdekan Lorenz Wolf lässt laut Marx vorerst alle Ämter ruhen. So war er etwa als Gottesmann bislang Vorsitzender des Rundfunkrates des Bayerischen Rundfunks. Wolf wird in dem Gutachten vorgeworfen, sich eher vor beschuldigte Geistliche gestellt und Opfer erst einmal misstrauisch beäugt zu haben. Er soll nun Zeit bekommen,
Stellung zu nehmen. Eine klare personelle Trennung der Diözese von ihm hätte anders ausgesehen.
Auf mehrfache Nachfragen zum Ex-Papst und einstigen Münchner Kardinal Joseph Ratzinger bleibt Marx völlig nebulös. Hat Ratzinger falsche Angaben gemacht? „Ich habe keine Informationen darüber, dass er vertuscht hat.“
Scharenweise treten Katholiken in Bayern aus der Kirche aus, die Standesämter verbuchen bis zu dreimal so viele Termine wie sonst. Marx bleibt vage, wie die Kirche diese Gläubigen zurückgewinnen will. Ja, gleichgeschlechtliche Partnerschaften bei Kirchenbediensteten würden künftig eher akzeptiert, man nehme