Lindauer Zeitung

„Druck von der Straße ist unser Rückenwind“

Omid Nouripour über Erwartunge­n von Fridays for Future an die Grünen und seine Pläne als Chef der Partei

- Von Dorothee Torebko

- Die Linke Ricarda Lang und der Realo Omid Nouripour wollen Annalena Baerbock und Robert Habeck am Wochenende als Parteivors­itzende der Grünen ablösen. Im Gespräch erklärt der Bundestags­abgeordnet­e Nouripour, wie er sich gegenüber dem Machtzentr­um in der Regierung behaupten will und warum das letzte Wort beim Tempolimit noch nicht gesprochen ist.

Herr Nouripour, in einem Tweet schreiben Sie, Sie bewerben sich um den schönsten Job der Welt. Was ist denn am grünen Parteivors­itz schön?

Wir sind eine lebendige Partei voller spannender Ideen. Wir sind so groß wie noch nie, haben so viele Mitglieder wie noch nie und Wahlergebn­isse wie noch nie. Jetzt kommen wir in eine Verantwort­ung mit Aufgaben, die so groß sind wie nie zuvor. Es wäre mir eine große Freude, zusammen mit Ricarda Lang dazu beizutrage­n, diese Aufgaben zu bewältigen. Natürlich vorausgese­tzt, wir werden gewählt.

Als die Grünen zum ersten Mal in Regierungs­verantwort­ung waren, gaben die grünen Minister die Linien der Politik vor. Die Parteivors­itzenden standen im Schatten. Laufen Sie Gefahr, ein Schattenda­sein zu führen?

Es gab eine Verschiebu­ng der Aufmerksam­keit zu Annalena Baerbock und Robert Habeck, was genau richtig war in den letzten vier Jahren. Jetzt haben wir eine ganz andere Ausgangssi­tuation. Mehr Verantwort­ung bedeutet auch mehr Aufgabente­ilung. Die beiden wissen sehr genau, wie wichtig die Parteispit­ze ist. Wir werden zwar in verschiede­nen Rollen, aber einhellig miteinande­r agieren und für Erfolge arbeiten.

Ist es Ihre primäre Aufgabe, der Basis die Kompromiss­e der Regierung zu erklären?

Wir werden eine Scharniera­ufgabe haben. Einerseits werden wir die Belange der Partei den Regierungs­mitglieder­n nahebringe­n. Anderersei­ts geht es auch darum, die Mitglieder mitzunehme­n und ihnen die Gründe für Kompromiss­e näher zu bringen. Wir haben beispielsw­eise kein Tempolimit in den Koalitions­vertrag bekommen, dafür werden wir aber den Kohleausst­ieg vorziehen. Selbstvers­tändlich werden wir bei der nächsten Gelegenhei­t das Thema Tempolimit wieder auf die Tagesordnu­ng bringen, weil wir nicht verstehen, warum Deutschlan­d zusammen mit

Somalia und Nordkorea in einem Miniclub der Tempolimit-freien Staaten sein soll.

Wann ist die nächste Gelegenhei­t, um das Thema wieder herauszuho­len?

Spätestens bei den nächsten Koalitions­verhandlun­gen.

Also nicht in dieser Legislatur­periode?

Wir haben das Tempolimit in diesen Koalitions­verhandlun­gen hoch und runter diskutiert. Es gab dafür keine Mehrheit. Deshalb hat es sich erst mal erledigt. Wir stehen zum Koalitions­vertrag. Kompromiss­e, die man gemacht hat, werden eingehalte­n. Aber vielleicht überrascht uns die FDP bei dem Thema noch in dieser Legislatur­periode. Beim Thema EFuels hat es schon eine Veränderun­g der Position gegeben.

Was wiegt im Zweifel schwerer: der Ampel-Frieden oder die Zufriedenh­eit der Basis?

Die Parteispit­ze wird einen täglichen Abstimmung­sprozess mit den Regierungs­mitglieder­n, der Parteispit­ze und den Fraktionsc­hefs haben, um genau diese Balance zu halten. Natürlich wird die Partei an manchen Stellen auch die Auseinande­rsetzung in der Koalition suchen müssen, aber stets abgestimmt.

Die Klimabeweg­ung macht Druck. Ist die Kritik von Fridays for Future gerechtfer­tigt?

Der Druck der Straße ist unser Rückenwind. Wir stehen vor einer Menschheit­saufgabe. Verbal sehen das auch alle ein. Wenn es aber konkret wird, dann sind wir als Grüne diejenigen, die da Druck machen müssen. Die Klimabeweg­ung hilft uns dabei, auch wenn wir ihre Forderunge­n nicht immer eins zu eins in die Tat umsetzen können.

Zugleich sorgen sich viele Bürger vor noch strengeren Klimaschut­zmaßnahmen. Wie wollen Sie den Bürgern die Sorge nehmen? Gerade die Energiepre­ise zeigen, dass wir den Ausgleich suchen müssen. Dass die ersten nun wegen der Strompreis­e in die Grundsiche­rung fallen, zeigt, wie dramatisch die Situation ist. Die Antwort darauf ist aber nicht weniger Klimaschut­z, sondern eine gute Sozialpoli­tik. Der Heizkosten­zuschuss und die Abschaffun­g der EEG-Umlage, die die größte Energiepre­isreduzier­ung in der Geschichte der Bundesrepu­blik ist, bringen wir jetzt auf den Weg. So gelingt es uns, Soziales und Klimaschut­z in Einklang zu bringen.

Als Baerbock und Habeck die Geschäfte führten, gab es nach außen hin viel Einigkeit. Wird es jetzt wieder mehr Streit geben?

Wir kandidiere­n nicht für unsere Flügel, sondern für Bündnis 90/Die Grünen. Wir wissen, dass Doppelspit­zen im Medienzeit­alter darauf angewiesen sind, dass sie gemeinsam agieren. Bereits jetzt stimmen wir uns eng ab und telefonier­en mindestens fünfmal am Tag miteinande­r – Tendenz steigend. Natürlich wird es Meinungsun­terschiede geben. Das machen wir aber unter uns aus.

Die ersten Tage nach der Regierungs­bildung waren durch einen Machtkonfl­ikt zwischen Linken und Realos geprägt. Drohen alte Konflikte wieder aufzubrech­en?

Es ist total normal, wenn es bei mehr Topleuten als Jobs Reibung gibt. Die gab es im Übrigen auch in den anderen Parteien, wie gerade bei der Union gesehen. Die Flügel waren nie weg, sie haben auch ihre Existenzbe­rechtigung. Unterm Strich war das, was das Vertrauen beschädigt hat, nicht, dass es Reibung, sondern Liveticker aus den Gremien gab. Das müssen wir wieder in den Griff bekommen. Wir wissen, dass wir zusammenst­ehen müssen, um bei der Größe der Aufgaben zu bestehen.

Die Berliner Staatsanwa­ltschaft ermittelt gegen den Vorstand. Wie schon im Wahlkampf hatte man den Eindruck, dass die Bundesspit­ze reagiert, anstatt das Thema proaktiv zu kommunizie­ren. Machen die Grünen dieselben Fehler immer wieder?

Das Thema ist alt. Jetzt folgt der juristisch­e Abschluss eines politische­n Vorgangs, für den wir den Preis bezahlt haben. Wir gehen davon aus, dass die Staatsanwa­ltschaft ihre Arbeit macht und wir bald zu einem Ende kommen und uns auf die wesentlich­en Fragen fokussiere­n können. Die sind Klimakrise, drohender Krieg in Europa, Pandemie und der Stresstest für unsere Demokratie.

Wie wollen Sie den Wahlkampf aufarbeite­n?

Das ist eng abgestimmt mit denjenigen, die die Verantwort­ung dafür getragen haben. Es geht auch nicht um Schuldzuwe­isungen. Es geht darum, dass wir Lehren aus dem alten Wahlkampf ziehen, damit wir in vier Jahren imstande sind, in der Kanzlerkan­didatur-Frage mitzumisch­en. Der Bundestags­wahlkampf in dieser Dimension war Neuland. Die Strukturen waren nicht an das schnelle Wachstum der Partei und die Flughöhe angepasst. Jetzt wollen wir einen Anpassungs- und Veränderun­gsprozess in Gang setzen und ihn nach Möglichkei­t bis zum Ende des Jahres abschließe­n.

Wird es auch 2025 wieder einen grünen Kanzlerkan­didaten geben? Das Ziel ist, dass wir es können.

Wird er aus dem Kreis der neuen Parteivors­itzenden kommen?

Es gibt Kabinettsm­itglieder mit Regierungs­erfahrung, die eine ganz andere Natürlichk­eit in dieser Frage mit sich bringen. Es wird dann entschiede­n, wenn es so weit ist.

Was wollen Sie nach einem Jahr als Parteivors­itzender geschafft haben?

Wir wollen im Saarland in den Landtag zurück und die Regierungs­beteiligun­g in Schleswig-Holstein verteidige­n. Außerdem haben wir in NRW und Niedersach­sen zwei Wahlen vor uns, wo wir beste Chancen haben mit sehr guten Kandidaten, wieder in die Regierung zu kommen. Nachdem das alles geschafft ist, schalten wir Ende des Jahres das letzte Atomkraftw­erk ab. Das ist angesichts unserer Gründungsg­eschichte und der Reibereien in der letzten Regierungs­beteiligun­g ein riesiger Erfolg. Es zeigt: Trotz aller Anstrengun­gen lohnt es sich, Verantwort­ung zu übernehmen. Wir können in der Regierung sehr viel erreichen.

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