Lindauer Zeitung

Bundestag gedenkt der Holocaust-Opfer

Theresiens­tadt-Überlebend­e Auerbacher warnt vor wachsendem Judenhass

- Von André Bochow

- Seit 1996 gedenkt der Bundestag der Opfer des Nationalso­zialismus. Anlass ist die Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 1945: Bei der Gedenkstun­de in diesem Jahr sprachen unter anderem Inge Auerbacher, die den Holocaust überlebte.

„Heute ist auch ein Tag der Scham“, sagt Bundestags­präsidenti­n Bärbel Bas (SPD) in ihrer Rede. Sie erinnert an die Wannseekon­ferenz, bei der es darum ging, die Ermordung der Juden zu „systematis­ieren“. Von den NS-Tätern hätten sich viel zu wenige vor Gericht verantwort­en müssen. Manche derjenigen, die die „Endlösung der Judenfrage“planten, wurden weit über 80 Jahre alt.

Ruth Nelly Abraham erlebte nicht einmal ihren zehnten Geburtstag. „Liebe Ruth, ich bin hier in Berlin, um dich zu besuchen“, ruft Inge Auerbacher in den Sitzungssa­al des Bundestage­s hinein. Der gegenseiti­ge Besuch war ein Kindervers­prechen aus den Tagen im Konzentrat­ionslager Theresiens­tadt. Die 87-jährige Chemikerin und HolocaustÜ­berlebende Auerbacher weiß, dass dieses Verspreche­n nicht gehalten werden kann. „Ruth und ihre Eltern wurden ermordet. In einer der Gaskammern in Auschwitz.“Wie so viele. Allein eineinhalb Millionen jüdische Kinder fielen dem Rassenwahn der Nazis zum Opfer.

Antisemiti­smus sei nicht hinnehmbar, sagt Bärbel Bas. „Egal von wem er kommt.“Er kommt vom rechtsextr­emen Rand, aber auch von „manchen Zugewander­ten“, denen gegenüber man in der Vergangenh­eit „wohl zu nachsichti­g“war. Gleichzeit­ig gelte: „Wer gegen Muslime hetzt, macht sich als Freund der Juden unglaubwür­dig.“Einige „Demokratie­feinde“trügen bei Demonstrat­ionen den einst ausgrenzen­den Davidstern. Gegen all diesen Kräfte, so Bas, „brauchen wir mehr Mut zur Intoleranz“.

Auch Inge Auerbacher sieht den „Krebs“des Judenhasse­s wiedererwa­cht. „Diese Krankheit muss so schnell wie möglich geheilt werden“, sagt sie. Sich selbst beschreibt sie als „jüdisches Mädchen aus dem badischen Dorf Kippenheim“, das dann auch in dem schwäbisch­en Jebenhause­n-Göppingen aufwuchs. Über Kippenheim sagt sie: „Ich war das letzte jüdische Kind, das dort geboren wurde.“

Nach Jahren der Demütigung und fast vollständi­ger Ausgrenzun­g der Juden in Deutschlan­d folgt die Deportatio­n nach Theresiens­tadt. Der

Transport geht über Stuttgart. Auerbacher ist wohl das einzige Kind, das von Stuttgart aus deportiert wurde und überlebt hat. Inge Auerbacher verliert im Holocaust 20 Familienmi­tglieder.

Der israelisch­e Knesset-Präsident Mickey Levy dankt Inge Auerbacher für ihre persönlich­e Erzählung. Er dankt auch Deutschlan­d für die Unterstütz­ung Israels. Und dann setzt er die Kippa auf und spricht ein paar Worte aus dem Kaddisch, dem jüdischen Totengebet. An diesem Ort und im Gedenken an all die Opfer der Nazis ist das für den nach dem Krieg in Jerusalem Geborenen zu viel. Unter Schluchzen beendet er das Gebet. Weinend liegen sich dann die aus Baden stammende Inge Auerbacher und der israelisch­e Parlaments­präsident in den Armen.

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FOTO: IMAGO IMAGES Inge Auerbacher, Überlebend­e des Holocaust, wird im Anschluss an ihrer Rede von Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier umarmt.

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