Der Bagger kommt erst zum letzten Akt
Jetzt steht fest, wie es nach dem Abriss am Reutiner Bahnhof weitergehen soll
- Das Reutiner Bahnhofsgebäude wirkt unverändert – zumindest von außen betrachtet. Im Inneren ist der Abbau in vollem Gange. Das ist eine mühsame Arbeit, denn jeder Stoff muss extra entsorgt werden. Die Zeiten, in denen der Bagger einfach alles platt gemacht hat, sind vorbei. Die Stadt hat jetzt bekannt gegeben, wie es nach dem Abbruch weitergehen soll.
Es war wie ein letztes Aufbäumen. Das alte Gebäude am Reutiner Bahnhof hatte vor der Gartenschau noch eine Verjüngungskur bekommen – mit einem neuen Anstrich in den Farben von Monets Seerosen. Und es hatte so viel Besuch, wie wohl schon lange nicht mehr, da dort vorübergehend eine Corona-Teststation untergebracht war. Dass diese Ende November ausziehen musste, das Gebäude aber immer noch steht, war für manche Lindauer unverständlich. Was von außen nicht zu sehen ist: Die Abrissarbeiten machen große Fortschritte. „Ende November haben wir mit dem Rückbau begonnen“, sagt Ulrich Müller-Lüneschloß vom Stadtbauamt.
Die Stadt musste schon davor ihre Hausaufgaben machen. Um auszuschließen, dass sich in dem alten Bahnhofsgebäude Fledermäuse oder andere tierische Gäste einquartieren, fand eine Artenschutzbegehung mit Naturschutzvertretern statt. Zudem wurden, so erklärt Müller-Lüneschloß weiter, bei Substanzuntersuchungen Proben genommen und auf Schadstoffe untersucht. Die Ergebnisse
waren bislang, was die Schadstoffmenge angeht, „relativ harmlos“, sagt er. Ein Problem gebe es allerdings im Keller, wo Bodenplatten im Teer verlegt wurden.
An der Seite türmen sich Erde und Ziegel, hinter dem Haus stehen drei große Container. Metall, Holz und Schutt werden dort entsorgt. Die Mitarbeiter der Abbruch- und Recyclingfirma Wäscher arbeiten sich systematisch durchs Haus. Einen Abriss, bei dem ein Bagger alles auf einmal platt macht, gebe es nicht mehr. „Jeder Stoff muss einzeln entsorgt, jedes Kabel von der Wand gezupft werden“, erklärt Müller-Lüneschloß. „Das ist fast so aufwendig wie ein Neubau.“
Damit endet bald, was vor mehr als hundert Jahren begann. 1907 hatten die Bauarbeiten für die Vergrößerung des Reutiner Bahnhofs begonnen, im Süden entstanden das Güterabfertigungsgebäude sowie die Ladestraße, im Norden der Personenbahnhof an der Bregenzer Straße. Im November 1911 ging der erweiterte Bahnhof Lindau-Ost in Betrieb. Das Gebäude sei seither „weitgehend unverändert“geblieben, sagt Müller-Lüneschloß. In den 50er Jahren sei eine Gastwirtschaft dazugekommen, auch Gewerbe wie Spielhallen, Solarium und Schlüsseldienst kamen später dort unter. Im Obergeschoss des Bahnhofsgebäudes waren Wohnungen, der letzte Mieter sei im
September vergangenen Jahres ausgezogen. Die Stadt hatte das Gebäude im Sommer 2020 von der Bahn AG gekauft und plant dort einen Neubau. Dafür muss das alte Bahnhofsgebäude weichen.
Das Haus ist fast komplett entkernt. Der Putz ist von den Wänden geschlagen, Türen sind ausgebaut, fehlende Decken geben den Blick in den Dachstuhl frei. In einem Zimmer sieht es aus, als entstünde dort ein kleiner Vulkan. „Das ist die Schüttung aus Fehlböden“, erklärt MüllerLüneschloß.
Der Fehlboden liegt in Holzdeckenkonstruktionen zwischen den Balken, um einen Schallschutz sicherzustellen. Auf Fehlböden wurden häufig Schuttreste und Schlacke verteilt. Die müssen jetzt entsorgt werden.
Im Erdgeschoss erinnert ein verwaistes Türschild an einen Aufenthaltsraum der Bahn, rot bemalte Zimmer und Wände, die braun-weiße Pharao-Tapeten zieren, zeigen, wo die Spielothek zu Hause war. Im Obergeschoss finden sich noch mehr Hinweise auf ehemalige Bewohner: Grüne Lampen mit dickem Kristallglas, geblümte Fliesen, aber auch Badarmaturen und Rohre warten noch darauf entsorgt zu werden.
Alles hat System, nichts liegt unsortiert herum. Die Arbeiter trennen jeden Balken, jedes Metallteil und jeden
Ulrich Müller-Lüneschloß Dachziegel. Problematischer wird es im betonierten Keller. Schwarze Spuren am Boden und an der unteren Kellerwand zeigen es: Die Platten wurden im Teer verlegt und müssen somit als Schadstoffe entsorgt werden. In einem Kellerraum lagert noch Schutt, mittendrin sitzt eine weiße Buddhafigur, Gesicht und Brust mit schwarzem Stift verziert. Auch sie wird bald rausmüssen.
Müller-Lüneschloß rechnet damit, dass es noch zwei bis drei Monate dauert, bis alles entsorgt ist. Dann können die Bagger kommen. „Das ist dann der letzte Akt.“Der Abbau, so schätzt er, werde etwa 200 000 Euro kosten – vorausgesetzt, es kämen nicht noch unerwartete Schadstoffe zutage.
Doch wie geht es nach dem Abriss weiter? Nachdem die Stadt das alte Gebäude gekauft hatte, war bislang unklar, ob sie dort selbst ein neues bauen und die Räume vermarkten, oder ob sie das mithilfe eines Investors erledigen will. Jetzt steht fest: „Wir werden als Stadt ein Bahngebäude bauen.“Das gibt Pressesprecher Jürgen Widmer auf Nachfrage der LZ bekannt.
Es soll dazu einen entsprechenden Architektenwettbewerb und Förderanträge geben. Widmer rechnet aber nicht mit einem Baubeginn in diesem Jahr. Trotzdem gibt es gute Nachrichten für alle Reisenden: Sobald die Fläche frei ist, soll sie mit Kies belegt werden, damit dort „temporäre Bauten“für die Verpflegung der Reisenden und Toiletten aufgestellt werden können.