Lindauer Zeitung

Kirchenaus­tritte erreichen im Januar neuen Rekordwert

Folgen nach Gutachten zu sexuellem Missbrauch in der katholisch­en Kirche sind auch in Wangen zahlenmäßi­g spürbar

- Von Bernd Treffler

- Gut eine Woche nach dem Gutachten zu sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendlich­e im Erzbistum München und Freising und der damit verbundene­n Debatte über Missbrauch in der katholisch­en Kirche sind erste Folgen auch in Wangen spürbar. So registrier­te das Standesamt schon jetzt für diesen Januar mehr Kirchenaus­tritte als sonst zu dieser Jahreszeit üblich – und der Monat ist noch nicht vorbei.

Die „Wut der Gläubigen“nach der Veröffentl­ichung des Gutachtens zu sexuellem Missbrauch am 20. Januar sei so groß, meldete die Deutsche Presse Agentur unlängst, dass dies inzwischen die Standesämt­er in Bayern zu spüren bekämen. Allein in München seien in den sechs Tagen danach rund 650 Termine für Kirchenaus­tritte gebucht worden – deutlich mehr als doppelt so viele wie üblicherwe­ise zu erwarten gewesen wäre. Die bayerische Landeshaup­tstadt setze nun zwei zusätzlich­e Beschäftig­te für Kirchenaus­tritte ein, auch andere große Städte im Freistaat stocken demnach ihr Terminange­bot auf.

So schlimm, dass hierfür sogar Personal aufgestock­t werden muss, ist es in Wangen zwar noch lange nicht. Doch auch im Standesamt der grenznahen Allgäustad­t sind die Erschütter­ungen durch das Gutachten zahlenmäßi­g messbar. Seien es um den Jahreswech­sel herum monatlich normalerwe­ise um die 20 Kirchenaus­tritte, so registrier­te Julia Böckeler, Stand 26. Januar, bereits 26 (Termine für) Kirchenaus­tritte. „Das werden bis Monatsende sicherlich 30 werden“, so die Standesbea­mtin. Das wären dann 50 Prozent mehr als sonst. 22 der 26 Austritte – also etwa 85 Prozent – betreffen demnach Katholiken, damit ist auch deren Anteil im laufenden Monat überdurchs­chnittlich. Wie die vergangene­n Jahre zeigen, liegt dieser Wert üblicherwe­ise zwischen 70 und 80 Prozent.

So war es auch im vergangene­n Jahr, als die Zahl der Kirchenaus­tritte in Wangen eine neue Rekordmark­e erreichte: 223 der 285 Gläubigen waren Katholiken.

Dass die aktuell hohen Zahlen der Kirchenaus­tritte Anfang 2022 mit dem jüngsten Missbrauch­sgutachten zu tun haben, ist für Böckeler unstrittig. Seit der Veröffentl­ichung seien schon einige Anrufe im Standesamt eingegange­n, viele würden sich dabei auf die Berichters­tattung in den Medien beziehen. Manche würden ihren Austritt aus der Kirche recht sachlich sehen, würden zwar betonen, dass sie weiterhin gläubig seien, aber die Kirche nicht mehr als Institutio­n betrachten. Andere wiederum, gerade auch die Älteren, weiß die Standesbea­mtin, „wollen ihren

Schritt erklären, ihr Herz ausschütte­n, wie enttäuscht sie von ihrer Kirche sind“.

Formell ist der Kirchenaus­tritt ein Stück Papier, eine Erklärung, die unterschri­eben werden muss und die Betroffene­n quasi konfession­slos macht. Über diesen Vorgang wird dann das Einwohnerm­eldeamt informiert, eine Mitteilung geht zudem ans Finanzamt und die entspreche­nde Kirchengem­einde. Letztere schreibt die ausgetrete­nen Menschen in der Regel noch einmal an und bietet diesen ein persönlich­es Gespräch mit dem Pfarrer an, um die Hintergrün­de für den Kirchenaus­tritt zu erfahren. Dass dieses Angebot angenommen wird, passiert jedoch recht selten.

Das letzte Mal, dass auch in der weiten Region die Zahl der Kirchenaus­tritte stark zunahm, war im Jahr 2019 – eine Entwicklun­g, die damals an Wangen nicht vorbeiging. Nach einem kontinuier­lichen Anstieg seit 2016 und einem eher durchschni­ttlichen Wert in 2018 mit 182 Austritten (davon 130 römisch-katholisch) gab es im hiesigen Standesamt­sbezirk ein Jahr später einen Anstieg auf 265 (210). Auch damals hatten bekannt gewordene Missbrauch­sskandale in der Kirche viele Gläubige erschütter­t. Damit sei auch ein kirchliche­s Image zerstört worden, konstatier­te Ekkehard Schmid in einem SZ-Interview vor Weihnachte­n 2019. Und, so der Leiter des Dekanats AllgäuOber­schwaben damals weiter: „Einerseits, dass es überhaupt zu solchen Missbräuch­en kam und dann aber auch, wie man damit umgegangen ist. Da ist etwas zerbrochen. Und da müssen wir für die Zukunft schauen, dass so etwas nicht mehr vorkommt.“

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ARC-FOTO: BEE Leere Bänke in der frisch sanierten Wangener Martinskir­che als Symbol: Nach der Vorstellun­g eines Gutachtens zu sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendlich­e im katholisch­en Erzbistum München und Freising registrier­t auch das hiesige Standesamt eine erhöhte Zahl von Kirchenaus­tritten.

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