„Massenarbeitslosigkeit wäre noch teurer gewesen“
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil über staatliche Zuschüsse und seine Rezepte gegen den Fachkräftemangel
- Bürgergeld statt Hartz IV, ein vom Staat verordneter Mindestlohn von zwölf Euro: Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Soziales, startet mit großen Plänen in seine zweite Amtszeit. Warum ihm Tarifautonomie trotz seiner Intervention wichtig ist und wie er den Fachkräftemangel bekämpfen will, erklärt der 49-Jährige im Interview.
Sie haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, der den Mindestlohn auf zwölf Euro anhebt. Bisher legt den eine Kommission fest. Warum weichen Sie davon ab?
Die Erhöhung des Mindestlohns ist eine Frage der Leistungsgerechtigkeit und des Respekts vor ordentlicher Arbeit. Viele der Menschen, die in der Pandemie den Laden am Laufen gehalten haben – vor allem Frauen – werden schlecht bezahlt. Deshalb muss der Mindestlohn auf zwölf Euro steigen. Das haben wir vor der Wahl versprochen, und dafür haben wir von den Bürgerinnen und Bürgern ein Mandat bekommen. Der Mindestlohn von zwölf Euro ist sozial und ökonomisch sinnvoll. Er wird die Kaufkraft in Deutschland stärken. Das ist Ausdruck des Respekts für die vielen fleißigen Menschen, gerade auch in Ostdeutschland.
Warum erhöhen Sie den Mindestlohn am 1. Oktober?
Das ist ein sinnvoller Schritt und auch Ausdruck des Respekts vor der Mindestlohnkommission, die ja eine Erhöhung des Mindestlohns im Juli beschlossen hat. Die Unternehmen können sich so gut auf die Erhöhung einstellen und wir stärken den sozialen Zusammenhalt.
Mit dem Mindestlohn wollen Sie erreichen, dass Vollzeitbeschäftigte selten ergänzend Sozialleistungen brauchen. Das soll die gesellschaftliche Teilhabe stärken. Ist er für Sie also ein sozialpolitisches oder ein arbeitsmarktpolitisches Instrument?
Beides. Vom Mindestlohn profitieren mehr als sechs Millionen Menschen. Für viele von ihnen ist das eine Lohnsteigerung von bis zu 22 Prozent im Vergleich zu heute. Der Grundsatz muss doch sein: Wer in Vollzeit arbeitet, sollte ohne staatliche Unterstützung auskommen. Wo die Mieten sehr hoch sind, gelingt das nicht überall. Aber die Erhöhung des Mindestlohns hilft vielen fleißigen Menschen ganz konkret. Das eigentliche Ziel ist natürlich mehr als nur diese Lohnuntergrenze.
Was ist Ihr Ziel?
Die Tarifbindung muss wieder steigen. Deshalb sollen öffentliche Aufträge des Bundes künftig nur noch an tarifgebundene Unternehmen gehen. In der Altenpflege bekommen schon ab Sommer nur die Einrichtungen Geld von der Pflegeversicherung, die ihre Beschäftigten nach Tarif bezahlen. In dieser Gesellschaft zerbricht etwas, wenn in Krisenzeiten Menschen aus wichtigen Branchen applaudiert wird, sie dann aber den Eindruck haben: Das war‘s. Hier werde ich gegensteuern. Dafür ist der Mindestlohn ein wichtiger, aber ganz sicher nicht der einzige Schritt.
Beschädigen Sie nicht die Tarifautonomie, wenn die Politik den Mindestlohn festsetzt?
Im Gegenteil. Die meisten Menschen, die von der Erhöhung profitieren, haben gar keinen Tarifvertrag. Für mich sind Tarifautonomie und starke Tarifbindung in der sozialen Marktwirtschaft unverzichtbar. Das meiste, was Beschäftigten nützt, steht nicht in einem Gesetz, sondern in einem Tarifvertrag. Als der Mindestlohn eingeführt wurde, gab es Horrorszenarien zu lesen, dass eine Millionen Jobs wegfallen würden. Das Gegenteil ist eingetreten. So werden sich auch die Horrormeldungen von heute in Luft auflösen. Der Mindestlohn beschädigt das Tarifgefüge nicht. Im Gegenteil, er stärkt es.
Bei zwölf Euro Mindestlohn können Minijobber weniger Stunden arbeiten, bis sie die Verdienstgrenze
von 450 Euro im Monat erreichen. Deswegen ist im Koalitionsvertrag vorgesehen, sie auf 520 Euro anzuheben. Wann passiert das? Zeitgleich am 1. Oktober. Und zu diesem Termin werden wir auch die Midi-Job-Grenze auf 1600 Euro erhöhen. Das ist so in der Koalition vereinbart – und so machen wir’s. Minijobs dürfen aber nicht zur Teilzeitfalle für Frauen werden. Da werden wir gegensteuern.
Wie?
Etwa indem wir den Beruf der Alltagshelfer aufwerten. In Privathaushalten gibt es heute sehr viel Schwarzarbeit. Das wollen wir ändern. Es geht darum, dass man sich auch als Normalverdiener soziale Dienstleistungen im Haushalt legal leisten kann. Wer die
Alltagshelfer sozialversicherungspflichtig anstellt, für den soll der Staat 40 Prozent der Kosten übernehmen, bis zu einem Höchstwert von 2000 Euro im Jahr. Das werden wir zunächst für Familien mit Kindern und zu pflegenden Angehörigen einführen. Damit schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe: Wir schaffen legale Beschäftigung an Stelle von Schwarzarbeit und sorgen für bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Soll es auch noch nach dem 31. März noch Krisen-Kurzarbeitergeld geben, und wird die Höchstbezugsdauer von 24 Monaten verlängert?
Wir haben mit der Kurzarbeit Millionen Arbeitsplätze durch die Krise gerettet. Über eine Verlängerung haben wir als Bundesregierung mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten gesprochen. Ich werde dazu Vorschläge machen und dann werden wir uns dazu abstimmen. Die Industrie läuft in weiten Teilen gut, auch wenn es durch Lieferstörungen zu Problemen kommt. Ganz anders sieht es in den Bereichen aus, die wegen der CoronaPandemie immer noch stark betroffen sind. Ich denke da an die Veranstaltungsbranche, Gaststätten, Teile des Handels und den Kulturbereich. Aber eines ist mir wichtig: Die Unternehmen und die Beschäftigten dort können sich wie bisher auf den Arbeitsminister verlassen. Mein Ziel ist, dass wir den Arbeitsmarkt weiter robust durch die Krise bringen. Die Betriebe sollen nach der Pandemie wieder durchstarten können mit Fachkräften an Bord, die sie dank der Kurzarbeit halten konnten.
Die Bundesagentur für Arbeit (BA) hat aber keine Reserven mehr, länger Kurzarbeitergeld zu zahlen. Mit wie viel muss der Bund einspringen?
Zusammen mit den Bundeszuschüssen haben wir über 42 Milliarden Euro für Kurzarbeit ausgegeben. Viel Geld, aber Massenarbeitslosigkeit wäre noch teurer gewesen. Die BA muss weiter voll handlungsfähig bleiben. Deswegen müssen wir sie aus dem Bundeshaushalt so unterstützen, dass sie in der wirtschaftlichen Erholung wieder Rücklagen für neue Krisen aufbauen und gleichzeitig neue Instrumente bei Weiterbildung und Qualifizierung finanzieren kann.
Muss der Beitragssatz der Arbeitslosenversicherung erhöht werden? Der Beitrag ist mit 2,4 Prozent historisch niedrig und in diesem Jahr trotz Krise nicht gestiegen. Und wir haben nicht vor, ihn kurzfristig zu erhöhen.
Dafür helfen wir in der Krise mit Steuermitteln. Gesetzlich festgelegt ist allerdings schon jetzt, dass der Beitrag Anfang 2023 auf 2,6 Prozent steigt. Die BA steht in den nächsten Jahren vor vielen Herausforderungen. Neben den Folgen der CoronaPandemie geht es darum, den Strukturwandel und die Digitalisierung zu begleiten und dem Fachkräftemangel zu begegnen.
Was tun?
Wir müssen die passenden Rahmenbedingungen schaffen, damit die Erwerbsbeteiligung der Frauen steigt. Wenn zudem Jahr für Jahr 50 000 junge Leute die Schule ohne Abschluss verlassen, dann kann das nicht so bleiben. Ebenso wenig, dass es 1,5 Millionen junge Leute zwischen 20 und 30 Jahren gibt, die keine Berufsausbildung haben. Ich will, dass Deutschland eine Weiterbildungsrepublik wird. Das geht die Ampel an mit einer Bildungszeit oder einer Bildungsteilzeit. Konkret heißt das: Wer sich während des Jobs weiterbildet, bekommt dabei eine finanzielle Unterstützung. Ergänzend brauchen wir auch qualifizierte Zuwanderung aus dem Ausland.
Stichwort Fachkräftemangel: Wie wichtig ist er bei Ihrem Plan, Hartz IV durch ein Bürgergeld zu ersetzen? Zwei Drittel der Langzeitarbeitslosen haben keine abgeschlossene Berufsausbildung. Mit dem Bürgergeld sorgen wir dafür, dass künftig gilt: Ausbildung vor Aushilfsjob. Und mit einem Weiterbildungsbonus setzen wir die richtigen Anreize. Es hat keinen Sinn, dass Menschen ein Leben lang ohne Ausbildung dastehen, und in anderen Bereichen fehlen gut ausgebildete Leute. Der Staat allein kann nicht die Aufgabe von Unternehmen ersetzen, sich um Fachkräftesicherung zu kümmern. Auch die Beschäftigten müssen sich selbst bemühen. Aber wir werden Beschäftigte und Unternehmen dabei unterstützen. Ich bin froh, dass mit dieser Koalition hier viel mehr möglich ist als mit den früheren Partnern.
Wann soll das Bürgergeld kommen?
Mein Ziel ist, dass wir noch in diesem Jahr das Gesetz beschließen und es im nächsten Jahr umsetzen. Diese große Reform braucht Zeit, weil viele Verwaltungsfragen bis hin zu den nötigen Computerprogrammen geregelt werden müssen. Im bisherigen System der Grundsicherung haben wir viel zu viel Bürokratie. Die Menschen sollen erleben, dass ihnen der Staat in der Not zur Seite steht und nicht bürokratisch vor der Nase.