Lindauer Zeitung

Der große Frauenvers­teher

Vor 60 Jahren präsentier­te Yves Saint Laurent die erste Kollektion unter seinem Namen

- Von Axel Botur

(dpa) - Schon zwei Stunden vor dem Beginn des Defilees sind die Straßen rund um die Rue Spontini verstopft. Vor der Hausnummer 30 bilden sich lange Schlangen. Berühmthei­ten wie die Schriftste­llerin Françoise Sagan und die Tänzerin Zizi Jeanmaire bahnen sich ihren Weg in die erste Reihe. Von diesem 29. Januar 1962 erwarten viele Großes. Um 10.30 Uhr würde Yves Saint Laurent, das Wunderkind der Pariser Modewelt, die ersten Entwürfe seines Couture-Hauses präsentier­en.

Die Kritiken zu seinem Debüt fallen allerdings durchwachs­en aus. Das Große kommt später: Yves Saint Laurent wird den Smoking für Damen erfinden, den Safari-Stil populär machen, mit transparen­ten Stoffen dem „Nude Look“den Weg bereiten, die Werke großer Künstler wie Mondrian oder Picasso auf Kleidung übersetzen. Er wird die Art prägen, wie sich Frauen kleiden.

Yves Henri Donat Mathieu-Saint Laurent, so sein vollständi­ger Name, kommt am 1. August 1936 im algerische­n Oran zur Welt. Schon als Kind begutachte­t er die Kleider seiner Mutter und seiner Tanten, er liebt Bücher und das Theater, zeichnet. Es ist auch eine Flucht aus der Realität. Seine Mitschüler hänseln und verprügeln ihn. Sie spüren, was auch Yves Saint Laurent früh erkennt: Er ist homosexuel­l.

1953 nimmt er an einem renommiert­en Designwett­bewerb teil, belegt den dritten Platz, übersiedel­t nach Paris und wird 1955 Assistent beim berühmtest­en Couturier jener Zeit: Christian Dior. Der erkennt und fördert das Talent. Und so wird Yves Saint Laurent mit gerade einmal 21 Jahren nach Diors Tod 1957 zu dessen Nachfolger ernannt.

Der Höhenflug endet abrupt, als er 1960 zum Militärdie­nst eingezogen wird. Der Designer zerbricht an der Härte des Kasernenle­bens, kommt in die Nervenklin­ik, wird mit Medikament­en ruhiggeste­llt. Und er verliert seinen Job bei Dior.

Zu diesem Zeitpunkt ist bereits ein Mann an seiner Seite, der über Jahrzehnte dem fragilen Wesen Saint Laurents Halt und seiner schöpferis­chen Genialität Struktur geben wird: Pierre Bergé, Lebens- und Geschäftsp­artner

in einem. Dass der Designer überhaupt ein eigenes Couture-Haus eröffnen kann, verdankt er ihm – Bergé akquiriert über einen Investor das Startkapit­al.

Doch der Status der Haute Couture bröckelt bereits. In den 1960erJahr­en dürstet es die Jugend nach Neuem. Auch in der Mode. Die elitäre Maßschneid­erkunst gilt ihr als dekadent. Saint Laurent passt sich an und eröffnet 1966 in Paris die erste „Rive Gauche“-Boutique. Unter diesem Namen hatte er eine Linie für hochwertig­e Konfektion, die Prêt-àporter, lanciert. Später dringt er über die Vergabe von Lizenzen bis in den Massenmark­t vor.

Immer wieder bricht Saint Laurent auch gesellscha­ftliche Tabus, wirbt zum Beispiel nackt für eines seiner Parfüms und arbeitet schon mit schwarzen Models, als noch niemand an Diversität denkt. Ebenso legendär wie seine Mode ist sein Lebensstil. Er konsumiert Drogen und Alkohol, feiert wilde Partys. „Wir waren wie schrecklic­he und verwöhnte Kinder, die nur an sich und ihren Spaß dachten“, erinnert sich Betty Catroux in der „Welt“an die Zügellosig­keit

jener Zeit. Das Model gehört neben Loulou de la Falaise und der Schauspiel­erin Catherine Deneuve zu den Musen des Designers.

Die Folgen solcher Exzesse: Angstzustä­nde, Zusammenbr­üche. Doch seine Fans halten ihm die Treue, auch als seine Kollektion­en schon nicht mehr genial sind. „Einer der Schlüssel zu Saint Laurents kommerziel­lem Erfolg war es, Kleider zu kreieren, die die Frauen gern trugen“, schreibt Alice Rawsthorn in ihrer 1996 erschienen­en Yves-Saint-Laurent-Biografie.

Mit einem als Retrospekt­ive angelegten Defilee im Centre Pompidou von Paris zieht sich Yves Saint Laurent am 22. Januar 2002 aus der Modewelt zurück. Andere Designer wie Tom Ford und Hedi Slimane werden künftig unter seinem Namen entwerfen. Seit 2016 heißt der Kreativdir­ektor des Labels Anthony Vaccarello.

Am 1. Juni 2008 stirbt Yves Saint Laurent im Alter von 71 Jahren. Wie bedeutend sein Wirken war, zeigt jetzt das Ausstellun­gsprojekt „Yves Saint Laurent aux musées“. Gleich sechs Pariser Museen widmen sich bis zum 15. Mai seinem Schaffen.

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