Lindauer Zeitung

Jetzt mal ganz langsam

Vom Bodensee bis Berlin: Städte wollen Tempo 30 deutlich ausweiten. Hinter dem Plan steht auch der neue Bundesverk­ehrsminist­er. Fahrradfre­unde haben trotzdem Zweifel. Und auch die IHK sowie der ADAC rebelliere­n.

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- Katrin Voß-Lubert (54) ist Fahrradpur­istin. Wer ihr mit dem Drahtesel auf einer Tour durch Ulm folgen will, hat selbst mit E-Motor kaum eine Chance. Die örtliche ADFC-Vorsitzend­e (Allgemeine­r Deutscher Fahrrad-Club) ist einfach zu gut trainiert, was daran liegt, dass sie die Ulmer Buckel und Hügel allein kraft ihrer Waden bewältigt.

Katrin Voß-Lubert spricht noch schneller, als sie in die Pedale tritt. Innerorts setzt sie sich jedoch für Entschleun­igung ein. Großflächi­g Tempo 30 hätte in Städten und Dörfern mehrere Vorteile, erläutert sie beim Vor-Ort-Termin an der viel befahrenen Söflinger Straße. Sie deutet auf ein Gewirr aus Spuren mit Bussen, Autos, Straßenbah­nen. Und auch auf ein paar Radler, die sich fortbewege­n auf einem Fahrradsch­utzstreife­n: hindurch zwischen geparkten Autos zu ihrer Rechten und der rollenden Blechkolon­ne zu ihrer Linken.

Was sie sieht, gefällt Katrin VoßLubert nicht. „Die Fahrbahn ist sehr eng. Eigentlich dürften die Autos die Radfahrer hier gar nicht überholen.“Denn die Regel besage: Autofahrer­n ist dies nur gestattet, wenn sie anderthalb Meter Abstand halten können. Wären ihre Kinder noch jünger, in einem Alter, in dem Kinder auf Fahrrädern am Straßenver­kehr teilnehmen, würde sie es ihnen verbieten, in die Stadt hineinzufa­hren. „Zu gefährlich!“

Unter anderem diesen Missstand will ein Bündnis von Großstädte­n beheben. Neben Ulm haben auch Augsburg, Freiburg und Leipzig die Vorteile einer neuen Langsamkei­t für sich entdeckt. Sie treten gemeinsam dafür ein, dass sie künftig selbst bestimmen dürfen, wo Tempo 30 gilt. Sie wollen mehr davon. Unter dem Dach der Agora Verkehrswe­nde und mit Unterstütz­ung durch den Deutschen Städtetag gingen sie mit ihrer Initiative im Sommer an die Öffentlich­keit.

Noch werden sie vom Straßenver­kehrsgeset­z (StVG) und der Straßenver­kehrsordnu­ng (StVO) ausgebrems­t. Zwar ist Tempo 30 möglich vor Schulen und Krankenhäu­sern und vielerorts auch nachts Realität, damit Anwohner durch Verkehrslä­rm nicht ihres Schlafs beraubt werden. Eine weiter gehende Temporeduz­ierung scheitert jedoch oft an Untersuchu­ngen und Gutachten. „Sehr aufwendig“sei dies, sagt Philipp Kosok, der Sprecher der Agora Verkehrswe­nde. Dabei bedürfe es gar nicht mal vieler „Stellschra­uben“, um Städte sicherer, lebenswert­er sowie klimaund radfahrerf­reundliche­r zu gestalten.

Tempo 30 hätte in der Söflinger Straße mehrere Vorteile, erklärt Katrin Voß-Lubert. Dann wäre die Geschwindi­gkeitsdiff­erenz zwischen Radlern und Autos deutlich geringer, der Bremsweg wäre kürzer und mehr Menschen würden sich aufs Rad trauen. Vor allem müssten Anwohner auch tagsüber weniger Lärm ertragen, die Lebensqual­ität steige.

Philipp Kosok will keine Zeit verlieren. Eine Tempo-30-Reform könne flott auf den Weg gebracht werden, noch in diesem Jahr. Letztlich müssten „nur“das StVG und die StVO ergänzt werden – um den Zusatz, dass der Verkehr in Kommunen nicht nur „sicher“und

„flüssig“zu laufen habe, sondern auch der „Klimaschut­z“und „städtebaul­iche Aspekte“beachtet werden sollen.

2022 scheint die Zeit tatsächlic­h reif – und ein Mehr an Tempo 30 kaum mehr aufzuhalte­n. Paris machte es vor, seit Sommer gilt dort Tempo 30. Und auch im Koalitions­vertrag der Ampel ist die Rede davon, den Klima- und den Umweltschu­tz nun auch in der deutschen Verkehrsge­setzgebung zu verankern.

Die Debatte hatte um den Jahreswech­sel neue Nahrung bekommen. Zwar sitzt mit Volker Wissing ein FDP-Mann als Chef im Verkehrsmi­nisterium am Ruder und kein Grüner, die ja als besonders fahrradfre­undlich gelten. Allerdings ließ Wissing durchblick­en, dass er Ländern und Kommunen „Entscheidu­ngsspielrä­ume eröffnen“werde, um mehr Tempo 30 vor Ort einzuführe­n.

Wie genau, ist unklar. Auf Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“teilt eine Sprecherin des Verkehrsmi­nisteriums mit, dass man „Einzelheit­en“noch nicht nennen könne. Und eine Absage erteilt Wissing gleichwohl dem ebenso vorgetrage­nen Wunsch aus Richtung der Agora Verkehrswe­nde, Tempo 30 möge doch bitte flächendec­kend als die neue „zulässige Höchstgesc­hwindigkei­t“in Kommunen gelten.

Philipp Kosok bewertet die Ansagen des Ministers trotzdem „positiv“– „das freut uns sehr.“Und auch Katrin Voß-Lubert ist guter Dinge, dass sich Ulm dadurch schneller zu einer tatsächlic­h fahrradfre­undlichen Stadt entwickelt. Noch bescheinig­t sie Ulm Entwicklun­gspotenzia­l. Müsste sie Schulnoten verteilen, würde sie der Stadt unterm Strich „eine Drei bis Vier“geben.

Paradoxe Welt 90 Kilometer südlich, am Bodensee. Zwar hat sich auch Friedrichs­hafen zu den Zielen der Agora Verkehrswe­nde bekannt. Doch der örtliche Kreisvorsi­tzende des ADFC kann darüber nur ungläubig den Kopf schütteln.

Bernhard Glatthaar (53) sagt, dieser Schritt habe ihn ziemlich überrascht. Schlicht und ergreifend, weil die Stadt in den vergangene­n Jahren vor allem durch die Verhinderu­ng

von Tempo 30 oder anderen Maßnahmen, die Verkehr reduzieren, aufgefalle­n sei. Als Beispiel nennt er die neue Umgehungss­traße (B 31). Obwohl es diese seit dem vergangene­n Jahr gebe, sei es nach wie vor erlaubt, mit dem Auto die bisherige Ortsdurchf­ahrt in der Friedrichs­traße zu nutzen. Die Situation in der Stadt fasst er so zusammen: Würde durch einen neuen Radstreife­n „auch nur ein Pkw-Parkplatz wegfallen“, so wäre dieser Radstreife­n in Friedrichs­hafen „gestorben“.

Die gescholten­e Stadt zeichnet ein anderes Bild. Bürgermeis­ter Dieter Stauber berichtet von „zahlreiche­n Projekten und Initiative­n“für Verkehrsbe­ruhigungen, beispielha­ft in der von Glatthaar genannten Friedrichs­traße. Hier soll der Verkehr „durch die Pflanzung von Bäumen“ausgebrems­t werden. Dass das Absenken des Tempos ab und an scheitere, liegt aus Sicht von

Stauber nicht zuletzt an „gesetzlich­en Voraussetz­ungen“. Er beklagt „starre rechtliche Rahmenbedi­ngungen“.

Bernhard Glatthaar spricht hingegen von einem „Kampf gegen Windmühlen“. Die „Schuldigen“verortet er nicht nur in der Politik, sondern auch im Geschäftsb­ereich. Vor allem die Händler betätigten sich in der Heimatstad­t des Automobilz­ulieferers ZF als „Autolobby“, weil sie Angst um ihre Umsätze hätten.

Sie sind nicht die Einzigen mit Befürchtun­gen. Auch für die Ulmer Industrie- und Handelskam­mer (IHK) geht die neue Tempo-30Dynamik in die falsche Richtung. Würde die Straßenver­kehrsordnu­ng entspreche­nd geändert, würden künftig „willkürlic­h Tempobesch­ränkungen“erfolgen – und das auch auf mehrspurig­en Bundesstra­ßen in Städten, vermutet Harald Seifert, der bei der IHK für den

Bereich Verkehr und Logistik zuständig ist. Seifert wäre selbst „Betroffene­r“, er ist geschäftsf­ührender Gesellscha­fter der gleichnami­gen Ulmer Spedition.

Die IHK sieht keinen Bedarf für Veränderun­gen. Die bestehende­n Regelungen hätten sich „bewährt“. Eine Ausweitung von Tempolimit­s brächte hingegen Nachteile für den ÖPNV, für Busse und Straßenbah­nen. Diese würden ausgebrems­t. Am Ende des Tages stünden „deutliche Fahrtzeitv­erluste“zu Buche.

Ein weiteres Argument gegen mehr Tempo 30 führt der ADAC ins Feld. Er befürchtet, dass in diesem Fall – wenn der Geschwindi­gkeitsvort­eil weg ist – sich die Autofahrer „Schleichwe­ge“suchen, um das Tempolimit auf Hauptverke­hrsstraßen zu „umfahren“. Die Autofahrer würden dann vermehrt in Wohngebiet­e ausweichen, so ADAC-Experte Ronald Winkler. Der Allgemeine Deutsche AutomobilC­lub ist dementspre­chend gegen eine Änderung, wie auch der Großteil seiner Mitglieder, wie eine Umfrage gezeigt hat. Nur ein Fünftel steht demnach hinter den Plänen, Tempo 30 deutlich auszuweite­n.

Auch Biberach hat sich der Agora Verkehrswe­nde angeschlos­sen. „Nicht weil wir grundsätzl­ich Tempo 30 in der gesamten Innenstadt haben wollen“, sagt Baubürgerm­eister Christian Kuhlmann. In der Vergangenh­eit habe sich die Stadt aber immer wieder durch das Verkehrsre­cht ausgebrems­t gesehen, wenn ihr auf bestimmten Durchgangs­straßen Tempo 30 als das richtige Mittel erschien. „Das geben die Gesetze bislang aber nicht her“, so Kuhlmann. Wenn durch den Bau einer neuen Umgehung zur B 30 die Innenstadt in einigen Jahren „hoffentlic­h“vom Durchgangs­verkehr entlastet sei, hofft er darauf, „dass wir bis dahin selbst entscheide­n dürfen, wo in Biberach Tempo 30 gelten soll“.

Thomas Dörflinger, Biberacher CDU-Landtagsab­geordneter und verkehrspo­litischer Sprecher der in Stuttgart mitregiere­nden CDU, schließt sich Kuhlmann an – flächendec­kend sei Tempo 30 nicht sinnvoll. Klar sei allerdings, dass neben der Verkehrssi­cherheit auch der Schutz der Bevölkerun­g vor gesundheit­sgefährden­dem Lärm und Abgasen „an erster Stelle“stehen müsse.

Bernhard Glatthaars Devise lautet: „Tempo 30 ist für die Menschen, Tempo 50 für Autos. Es gibt in den Städten aber mehr Menschen als Autos.“Seine Bemühungen hierfür reichen Jahrzehnte zurück, dies sei 1979 gar ein „Gründungsz­iel“des ADFC gewesen.

In Friedrichs­hafen wurde die allererste Tempo-30-Zone in den 1980er-Jahren in einem Wohngebiet eingericht­et. So war dies auch in Ulm. Tim von Winning, der Ulmer Baubürgerm­eister, war mit Blick auf den Koalitions­vertrag zunächst skeptisch, dass die neuen Regierungs­parteien Tempo 30 mit Verve angehen – heute klingt er optimistis­ch. Er sei „zuversicht­lich“, dass das mit „Drive“umgesetzt werden könne. Und zwar direkt vor Ort in den Städten, weil dort „die unterschie­dlichen Verkehrssi­tuationen“am besten bewertet und „abgewogen beurteilt“werden könnten. Das sieht auch Thomas Dörflinger so. Mehr Spielraum für Kommunen und Länder könne er sich „gut vorstellen“, es sei sinnvoll, wenn die Kompetenz vor Ort liege.

ADFC-Mann Glatthaar widerspric­ht. Seine Befürchtun­g: Legt der Bund die Tempo-30-Kompetenze­n in den Schoß der Städte, würde vielerorts weiter gebremst. Er plädiert für einen verbindlic­hen Beschluss des Bundestage­s. Im Idealfall einen, der Tempo 30 flächendec­kend verpflicht­end macht. Wenngleich natürlich auch nach wie vor Ausnahmen möglich sein sollten. Glatthaar sagt, er habe die Erfahrung gemacht, dass bei der Umsetzung vor Ort „jeder plötzlich der Schlauste“sei. Sobald Tempo 30 eine Ermessense­ntscheidun­g lokaler Gremien sei, „bricht das Chaos aus“.

Ganz verkehrt findet auch Philipp Kosok, Experte der Agora Verkehrswe­nde, diese Überlegung nicht – weil sich dadurch Vereinfach­ungen ergeben würden. Denn schon jetzt sei Tempo 30 in den Kommunen die vorherrsch­ende Geschwindi­gkeit, es gelte auf zwischen 70 und 80 Prozent des Straßennet­zes. Warum also nicht dieser normativen Kraft des Faktischen Rechnung tragen?

Katrin Voß-Lubert spürt bei Tempo 30 mittlerwei­le einiges an Rückenwind. Auf rund 1000 Mitglieder komme der ADFC im Raum Ulm (ähnlich viele sind es im Bodenseekr­eis) – der Unterstütz­erkreis Pro-Rad wachse stetig. Mittlerwei­le sei die Stadt Ulm sogar bereit, den Autofahrer­n ganze Spuren „wegzunehme­n“, um den Platz den Radlern zuzuschlag­en (in der Münchner Straße zum Beispiel).

Als ausschließ­liche Gegner begreift sie Auto und Rad jedoch nicht. Und es nutze auch Autofahrer­n, wenn der Verkehr – dank Tempo 30 – flüssiger laufe. Tim von Winning bestätigt: Das hänge nicht an der Höchstgesc­hwindigkei­t, sondern vielmehr an vernünftig­en Ampelschal­tungen und Grünphasen. Und daran, dass sich die Verkehrste­ilnehmer an die Regeln halten. Wer meint, dass diese für ihn als Autofahrer in Ulm nicht gelten, muss damit rechnen, Bekanntsch­aft mit Katrin Voß-Lubert zu machen. Es komme immer mal wieder vor, erzählt sie, dass sie einen Regelbrech­er mit dem Rad verfolge und diesen zur Rede stelle. Schnell genug dafür ist sie ja.

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FOTO: ALEXANDER TUTSCHNER Bernhard Glatthaar forderte lange und schließlic­h auch mit Erfolg Tempo 30 in der Friedrichs­hafener Maybachstr­aße.

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